Michael Blume: »Stuttgart hält zusammen«

Lesen Sie hier die Rede unseres Autors und Antisemitismus-Beauftragten des Landes Baden-Württemberg bei der Veranstaltung der JSUW-Stuttgart gegen Faschismus und für Demokratie und Freiheit

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Liebe Jüdische Gemeinde, liebe Lior,
liebe Barbara, lieber Alon,
liebe Frau Ministerin Olschowski, liebe Petra,
liebe Abgeordnete der Städte, des Landes, des Bundes,
liebe anwesende Bürgermeister, liebe Isabel (Fezer, Stuttgart),
lieber Christoph Traub aus Filderstadt,
liebe Kollegin Simone Fischer, Beauftragte für Menschen mit Behinderung,
liebe Freundinnen und Freunde aller Religionen und Kulturen, – stellvertretend Yavuz Kazanc für die Sunniten, Inan (Ince) & Ruhan (Karakul) für die Aleviten,
liebe Mitmenschen aus Vereinen und Kunst und Wissenschat und Recht,
und… liebe Mit-Fans des VfB Stuttgart – furchtlos und treu!

Danke, dass Ihr heute so zahlreich gekommen seid! Danke, dass die Arena heute in den Farben des Noah-Regenbogens leuchtet! Auch ich trage heute die VfB-Farben, denn Solidarität ist stets gegenseitig! Danke, dass wir hier beieinander sind und gemeinsam zeigen – Stuttgart hält zusammen!

Der fossile Lobbyist, ehemalige BILD-Chef und rechtsdualistische Journalist Julian Reichelt hat gerade wieder gehetzt, es demonstriere doch nur die »linksgrüne Elite«. Doch wir stehen heute alle zusammen, um zu zeigen: Um gegen Faschismus und gegen Deportationen zu sein, kann, muss aber niemand »links« oder »grün« oder »Elite« sein. Es reicht schon, ein gerne auch konservativer Mensch mit Anstand zu sein! Und wir sind viele, wir sind mehr!

Wir rufen von hier allen fossilen Konzernen und Medien, die uns spalten, unsere Demokratie schwächen und uns buchstäblich das Wasser abgraben, entgegen: Wir wollen Euren Hass und Eure Hetze nicht mehr! Wir respektieren die Wissenschaft und wissen, dass schwere Zeiten der Klima- und Mitweltkrise auf uns zukommen. Aber wir wollen da gemeinsam durch, als lebendige, vielfältige Demokratie! Wir wollen miteinander leben und haben Eure zunehmend »asozialen« Medien satt! Ihr dürft es in Euren fernen und arroganten Redaktionstürmen endlich hören: Hier glaubt Euch niemand mehr, denn Stuttgart hält zusammen!

Liebe Freundinnen und Freunde, Ihr wisst, dass auch meine deutsch-türkische und christlich-islamische Familie täglich Anfeindungen erlebt. Doch wir sind heute gemeinsam hier und dürfen Euch gemeinsam sagen: Die meisten Menschen in unserem schönen »Länd« sind keine Antisemitinnen, keine Rassisten, keine Sexisten! Die meisten hassen keine Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Identität oder aufgrund einer Behinderung! Die meisten Menschen wollen keinen Krieg und Terror, sondern für sich, für ihre Kinder und Nachbarn ein gutes Leben! Die meisten Menschen wissen, dass wir alle Ängste und Vorurteile in uns tragen, wollen sich aber auch weiterentwickeln.

Wir Stuttgarter sind sogar besonders tolerant und hatten hier auch schon einen Ministerpräsidenten, der bekennender Fan von Bayern München war! Wir können gönnen, weil wir wissen: Die meisten Menschen sind völlig okay. Stuttgart hält zusammen!

Ich wende mich heute an unsere gewählten Politikerinnen und Politiker im Stadtrat, im Regionalparlament, im Landtag, Bundestag, im Europäischen Parlament. Hier und heute werdet Ihr nicht angeschrien und ausgebuht. Niemand von uns blockiert Straßen, fordert von Euch mehr Subventionen und niemand von uns bedroht Euch mit Galgen. Auch unsere Polizistinnen und Polizisten haben von uns nichts zu befürchten, im Gegenteil: Wir danken Euch für Euren rechtsstaatlichen Dienst! Wir hier sind die Mitte der Gesellschaft, wir halten uns an Regeln, gehen fair miteinander um: Wir sind Deutsche und Zugewanderte, die Deutsche werden wollen.  Wir sind Engagierte, Wählerinnen und Kunden und wir denken über unsere Entscheidungen nach. Wir lösen unsere Konflikte im Dialog. Und wenn wir Euch nicht trauen würden, dann hätten wir Euch nicht gewählt! Vertraut auch uns, wenn wir zeigen: Stuttgart hält zusammen!

Ich durfte angesichts des Terrormassakers der Hamas am 9. November hier in unserem Landtag sprechen. Die Abgeordneten von vier Fraktionen erhoben sich zum stehenden Applaus, das erste Mal seit 2016. Die Abgeordneten einer Fraktion aber verließen einfach den Plenarsaal. Mit beidem kann ich sehr gut leben!

Aber ich bitte Euch auch zu bedenken, was es bedeutet, dass Abgeordnete einer bestimmten Partei am 100. Jahrestag des Hitlerputsches und dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht einen hessisch-thüringischen Politiker verteidigen, der schon ankündigte, sogar Parteigenossen »ausschwitzen« zu wollen! Ich bitte Euch zu bedenken, was es heißt, wenn mit Martin Sellner wieder ein Austrofaschist nach Potsdam eingeladen wird, um wenige Minuten vom Haus der Wannseekonferenz entfernt über die Diskriminierung und Deportation von Millionen Menschen aus Deutschland nach Afrika zu schwadronieren!

Wir stehen hier und heute zusammen um all den reichen, im Wohlstand verwahrlosten, menschenverachtenden Rassisten zu sagen: Baden-Württemberg wird sich Euch niemals beugen! Nie wieder ist jetzt und – Stuttgart hält zusammen!

Es freut uns, wenn uns inzwischen sogar der Bundeskanzler für unsere Demonstrationen dankt! Wir freuen uns über jeden Bundesminister, der vor Konzern-Lobbyisten und am Brandenburger Tor dann auch den Charaktertest besteht. Aber wir bitten Euch: Hört endlich auf, immer nur den lautesten Schreiern nachzurennen, sondern nehmt unsere Vielfalt und unsere Sorgen aus der Mitte der Gesellschaft ernst!

Wir akzeptieren nicht, dass uns erklärt wird, der Staat könne zwar einer Lehrerin das Binnen-I verbieten, aber leider keine faschistische Partei! Wir akzeptieren nicht, dass gesagt wird, der Staat könne nicht gegen verfassungsfeindliche Partei vorgehen, wenn diese »zu klein« sei – und dann auch nicht mehr, wenn sie wachse. Wenn Hendrik Wüst, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, die AfD doch bereits als »Nazi-Partei« bezeichnet, was gibt es dann noch abzuwarten?

Ich darf Euch versprechen: Niemand von uns hier wird den Bundestag oder Bundesrat beschuldigen, wenn ein Verbotsverfahren gegen verfassungsfeindliche Parteien lange dauert oder gar scheitert. Wir wissen doch längst, wie teuer und damit ungerecht, wie verkrustet und bürokratisch unser Justizsystem geworden ist. Wir wissen auch, dass die deutsche Justiz vor 100 Jahren schon einmal versagt hat, als es noch möglich gewesen wäre, die Nazis juristisch zu stoppen. Wir sind Euch nicht böse, wenn wieder einmal ein rechtsesoterisches Urteil fällt. Aber viele von uns wären enttäuscht, wenn Ihr es 2024 nicht einmal versucht!

Wir wollen nicht Euren Dank für unsere Zivilcourage, sondern wir wollen, dass Ihr selbst diese Courage wieder zeigt – in den Parlamenten und wenn es sein muss, auch vor Gericht! Ihr habt dabei unsere Unterstützung, denn Stuttgart hält zusammen!

In unserem Grundgesetz, das wir alle lieben und verteidigen, steht, dass die Würde des Menschen unantastbar sein soll. Es steht nicht darin, dass dies nur gilt, solange es nichts kostet! In unserem Grundgesetz steht, dass verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten sind – und zwar nicht als unverbindliche Empfehlung, sondern als Gebot! Es steht nicht darin, dass dies nur gilt, wenn es Altherren-Seilschaften, fossilen Konzernen und von ihnen finanzierten Medien gerade in den Kram passt.

In unserem Grundgesetz steht, dass Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen sind. Es steht nicht darin, dass wir tatenlos zusehen sollen, wie Demokratinnen bedroht werden und die Demokratie in Thüringen und Sachsen erneut zusammenbricht! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben den Nazi-Terror erlebt und überlebt und haben sehr bewusst eine wehrhafte Demokratie entworfen! Traut Euch, diese unsere Verfassung wieder ernst zu nehmen und mit neuem Leben zu füllen! Wir stehen dabei zu Euch, denn Stuttgart hält zusammen!

Es heißt, Ihr solltet Ängste ernstnehmen – und das stimmt auch. Aber es geht eben nicht nur um die Ängste von Reichen, Lobbyisten und Ewiggestrigen, sondern gerade auch um die vielen zugewanderten und gemischten Familien, um unsere Vielfalt! Wir wissen genau, dass die erste Gaskammer hier in Grafeneck zum Massenmord an Menschen mit Behinderungen eingerichtet wurde, dass die Nazis auch Roma und Sinti ermordeten und dass niemand mehr sicher sein wird, wenn auch nur eine Gruppe entrechtet, zur Deportation, zur Vernichtung preisgegeben wird.

Ich kann aus der jahrelangen Arbeit gegen Antisemitismus und Rassismus und jede Form des feindseligen Dualismus eines mit Sicherheit sagen: Hass und Hetze werden nicht kleiner, wenn wir ihnen nachgeben. Wir müssen vielmehr den Mut haben, klar zu sagen: Es gibt keine Rückkehr in eine nur vermeintlich heile Vergangenheit! Unsere Mitwelt leidet! Wenn wir eine gute Zukunft für uns und unsere Kinder haben wollen, dann geht dies nicht durch Hass und Hetze, sondern nur miteinander.

Wir verstehen daher nicht, dass der Bundestag und die Bundesregierung vor genau einem Jahr den IS-Genozid am Ezidentum parteiübergreifend anerkennt – um dann aber auch verfolgten Ezidinnen und Eziden, die gegen keinerlei Gesetze verstoßen haben, mit Abschiebungen zu drohen. Baden-Württemberg hat über 1.100 ezidische Frauen und Kinder aus dem Irak aufgenommen, von denen Farhad Alsilo heute hier ist! Wir bitten daher den Bund: Zeigt, dass Ihr die Sorgen aller Menschen ernstnehmt! Steht für die Verfolgten ein! Denn – Stuttgart hält zusammen!

Zum Schluss möchte ich noch all denjenigen widersprechen, die uns wieder einreden wollen, wir sollten faschistische Parteien durch Regierungskoalitionen »machen lassen« und damit »entzaubern«. Doch als Politikwissenschaftler muss ich Euch sagen, dass ich keinen einzigen Fall kenne, in dem das geschehen ist: Die NSDAP wurde 1930 durch ihre erste Regierungsbeteiligung in Thüringen nicht »entzaubert«, sondern gestärkt. Die Nazi-Nachfolgepartei SRP wurde in der frühen Bundesrepublik nicht »entzaubert«, sondern erfolgreich verboten.  Wladimir Putin, die Muslimbrüder in Ägypten, Gaza und Katar, die Taliban in Afghanistan und das iranische Regime wurden durch Regierungsmacht und fossiles Geld nicht gemäßigt, sondern radikaler. Wer diese Regime stoppen, wer Frieden will, muss Erneuerbare als Friedensenergien ausbauen.

Auch etwa die österreichische FPÖ und die schweizerische SVP wurden durch noch so viele Regierungsbeteiligungen und Skandale bis heute nicht »entzaubert«, sondern nur immer feindseliger. Nachdem die italienische »Postfaschistin« Meloni genau 100 Jahre nach Mussolini in Rom einzog, hat sie bereits begonnen, das italienische Wahlsystem anzugreifen. Viktor Orban von Ungarn ist nur immer noch korrupter und Putin-höriger geworden – und sein »Kollege« in Serbien eifert ihm nach. Bolsonaro hat Brasilien schwer geschadet und der Rechtslibertäre Milei richtet gerade Argentinien zugrunde, setzt übrigens in seinen marktradikalen Reden auch die Sozial- und Christdemokratie mit dem Nationalsozialismus gleich. Auch rechtsextreme und frauenfeindliche Parteien in Israel haben sich in Regierungen weiter radikalisiert. Auch die QAnon-Trumpers in den USA, die polnischen Antideutschen und die britischen Brexiteers wurden in Regierungen immer radikaler.

Ich würde mich als Demokrat doch freuen, wenn die »Entzauberungs«-These haltbar wäre, aber ich sehe in Geschichte und Gegenwart keinerlei Belege dafür! Nicht nur als Bürger und Beauftragter, sondern auch als Wissenschaftler muss ich Euch sagen: Wer Verfassungsfeinde an Regierungen beteiligt bewirkt keine Zauber, sondern nur Hass und Gewalt. Lasst uns also aufhören, den falschen, den fossilen Wolf zu füttern. Lasst uns beginnen, uns selbst und unsere Demokratie zu verändern und stark zu machen für die Jahrzehnte, die vor uns liegen. Es wird nicht leicht, aber wenn wir zusammenhalten, dann kann es sogar sehr gut werden. Vielleicht verlieren wir etwas an Besitz, gewinnen aber an Sinn und Gemeinschaft. Wir werden auch das schaffen, wenn wir es gemeinsam angehen und immer wieder daran festhalten: Stuttgart, Baden-Württemberg hält zusammen!

Danke & und Gott segne Sie.
Ihr Michael Blume

Über den Autor

Michael Blume

Michael Blume

Dr. Michael Blume, Religions- und Politikwissenschaftler, ist Beauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitete bis Juni…

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