Das Geheimnis der Bücher Karl-Josef Kuschels

Georg Langenhorst sprach eine Laudatio auf Karl-Josef Kuschel beim Festakt zu  dessen 75. Geburtstag in Tübingen. Hier können Sie noch einmal die Worte des Laudators nachlesen und vom Geheimnis seines Schreibens erfahren

Aktuelles Gesellschaft

Wenn es einen Leitbegriff gibt, der die Theologie der Gegenwart auszeichnet, dann ist es der des Dialogs. Klar doch: Eine in die Gegenwart hinein relevante Theologie muss sich im Dialog bilden, in Dialogen bewähren. Gegen Dialog kann man eigentlich gar nichts haben. Dialogisch zu sein, das heißt ja aufgeschlossen, kommunikativ offen, zeitgenössisch wach zu sein.

Ja, wäre es nur so leicht! Bei näherem Hinsehen relativiert sich die inflationäre Rede vom Dialog. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass dieser Begriff fast ausschließlich von der einen Seite des anvisierten Dialogs verwendet wird: von Seiten der Theologie. Oft genug bleibt die ernüchternde Einsicht: Die vermeintlichen Partnerdisziplinen oder konkrete potentielle Partner teilen das an sie herangetragene Dialog-Verständnis der Theologie nur zum Teil oder gar nicht. Das könnte ich an vielen Beispielen belegen, aber dafür ist dies natürlich nicht der richtige Ort. Ich fürchte jedenfalls: Ein großer Teil des Selbstanspruchs auf Dialogizität der Theologie erweist sich bei genauem Hinsehen als Blase…

Warum erwähne ich das? Weil wir hier und heute mit Karl-Josef Kuschel einen Theologen ehren, der paradigmatisch für ein Doppeltes steht. Einerseits für eine Theologie, die sich selbst tatsächlich durchgängig dialogisch versteht, konzipiert aus der inneren Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Feldern gegenwärtiger Kultur und Religion. Andererseits erwächst diese Theologie tatsächlich unmittelbar und transparent aus echten dialogischen Begegnungen. In ihnen muss sie sich immer wieder neu erweisen. In ihnen wird sie profiliert und geschärft.

Dialogisch im Selbstverständnis; aus Dialogen gewonnen und immer wieder neu in Dialogen geprüft und weiterentwickelt: Dieser dreifache Grundzug prägt die Theologie Karl-Josef Kuschels von Anfang an und bis heute. Kein Zufall: Viele seiner Bücher sind Koproduktionen, entstanden in kollegialem oder freundschaftlichem Austausch. Und einige der – in diesem Sinne – dialogischen Mitschreiber sind heute Abend unter uns. Verblüffend ist dabei die Vielzahl von dialogischen und im Dialog bewährten Feldern, die Kuschels Werk prägt.

Lassen Sie mich zwei dieser Felder im Blick auf sein Werk in aller Kürze charakterisieren. Am Anfang seines Schaffens steht eine Dialogdisziplin, die Karl-Josef Kuschel – das wird man aus heutiger Sicht konstatieren dürfen – überhaupt erst maßgeblich akademisch konturiert hat: eben der ›Dialog von Theologie und Literatur‹.

Mit seiner Dissertation »Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« – vor 45 Jahren! –  gelang Karl-Josef Kuschel der Auftakt zu einer intensiven eigenständigen Erforschung des interdisziplinären Feldes von Theologie und Literatur. Seine Arbeit gilt landauf, landab – aber auch international – als die Grundlegung eines Forschungsfeldes, das im englischsprachigen Raum als originäres Studienfach und Forschungsgebiet bereits längst etabliert, im deutschsprachigen Raum zu diesem Zeitpunkt jedoch kaum entfaltet war. Und im Laufe der Jahre entstanden immer wieder neue, umfassende, weit ausgreifende Studien bis hin zu den »Magischen Orten« von 2022, die das Feld im autobiographischen Rückblick differenziert ausloten. Kuschels Werke erreichen Auflagenzahlen, von denen andere Theologie-Treibende nur träumen können.

Stark genug, eigentlich. Was für ein Lebenswerk allein in diesem Bereich! Aber Karl-Josef Kuschel hat sich früh einem von ihm selbst immer wieder zitierten Leitspruch gestellt. »Man steht nur gut auf zwei Beinen!« Seine fulminante Habilitationsschrift über die Präexistenz Christi (1991) sollte dabei jedoch eher eine zusätzliche Stütze sein. Der klare Nachweis der Fähigkeit, auch dogmatische Binnendiskurse souverän, impulsreich und nachhaltig bespielen zu können, würde sich nicht auswachsen in jenes zweite Stand- oder Spielbein, das die künftige Statik und Beweglichkeit ausmachen würde.

Als wie viel reizvoller als die Binnenvergewisserung erwies sich für ihn die Grenze als Erkenntnisort, der Brückenschlag, der Austausch, die Schnittstelle, der Dialog! Erprobt im theologisch-literarischen Feld wuchs die Begegnung mit den abrahamischen Geschwisterreligionen Judentum und Islam zum zweiten großen Dialogfeld, nein, genauer: Trialogfeld. Erneut in zahlreichen grundlegenden Studien zeigt er auf, dass Begriff und Programm von ›Trialog‹ die auf Begegnung, Austausch und Annäherung abzielenden Kommunikationen zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam präzise benennt.

So! Aber genau das fasziniert die Lesenden an den Büchern (und Vorlesungen) Kuschels. Wir folgen ihm in seine Induktionen in fremde, spannende Welten. Lernen viel und werden gleichzeitig bestens unterhalten.  Kein Wunder, dass viele seiner Werke in viele andere Sprachen übersetzt sind und auch dort ihre Wirkung entfalten. Und davor ziehe ich – bildlich gesprochen – den Hut: Seine auch internationale Präsenz erreicht ein Maß, das kaum ein anderer Vertreter, kaum eine andere Vertreterin der Theologenzunft seiner oder meiner Generation vorweisen kann.

Dass sich die beiden Forschungsfelder berühren, durchdringen, gegenseitig befruchten, zu einem spannenden Eigenprogramm von »Weltreligionen in Weltliteratur« anwachsen würden, deute ich nur an. Genau so belasse ich es bei der Randbemerkung, dass es zahlreiche weitere Interessensfelder Kuschels gibt, für die wirkmächtige Publikationen Zeugnis geben.

Etwas genauer möchte ich hingegen auf das hermeneutische Verfahren eingehen, das Karl-Josef Kuschel über die Jahre entwickelt und perfektioniert hat.

Denn ja: Es gibt ein Geheimnis seiner Bücher. Da steht ein Thema, oft genug eine Person im Zentrum. Du liest – ausgestattet mit mehr oder weniger Vorwissen – hinein. Und wirst in einen Sog hineingezogen: in Kontexte, Hintergründe, Lebensgeschichten, Texte, ihre Vor-Welten, ihre Nach-Wirkungen… Und all das wird eben nicht mühsam und pflichtbewusst bildungsbürgerlich ausbuchstabiert, sondern erzählt. Das ist das Geheimnis der Bücher Karl-Josef Kuschels. Doch, man kann akademisch-theologisch, streng wissenschaftlich so arbeiten, dass es 1) in tiefe Differenzierungen führt und gleichzeitig 2) unterhaltsam präsentiert wird. Narration mindert die Qualität nicht, sondern schafft sie zuerst.

Er selbst bezeichnet dieses Verfahren als »Hermeneutik der Induktion«. Angezielt wird ein »Verstehen durch immanente, induktive Erschließung der Texte«. Dazu muss zunächst der untersuchte Autor »möglichst umfassend und unverstellt zu Wort kommen«. »Autor« habe ich gesagt. Ist das genderpolitisch schlampig formuliert? Nein: Im Zentrum der Aufmerksamkeit Kuschels stehen tatsächlich fast ausschließlich große, bedeutsame Männer. Sagen wir: im Sinne der Konzentration …

Zurück »Hermeneutik der Induktion«. Erforderlich ist dazu die »Auswertung aller vorhandener Quellen«, aber auch die literaturwissenschaftlich zu erhebende Berücksichtigung von »Gattungsdifferenz« und der jeweiligen »Adressaten«. Kuschel wählt seinen »erfahrungsbezogenen Ansatz« um aufzuzeigen, dass und wie Religion aus klar erschließbaren Lebenskontexten herauswächst und dann textliche Gestalt gewinnt. Wer ihn ein wenig kennt, weiß, wie sehr, wie intensiv und wie ausschließlich sich Kuschel – auf Zeit – in ein Thema vertiefen kann. Judith, seine Frau, beklagt sich zuweilen: ›Vertiefen‹, ja, aber es kann eben auch zu einem Sich-Verbeißen auswachsen. Das jeweilige Thema beherrscht dann alles: Zurzeit scheint mir, ist dies die faszinierende Welt von Stefan Zweig. Wir werden davon lesen …

Wie kann man einen Professor mit diesem Profil zum 75sten Geburtstag ehren? Wie kann ich das, damals sein erster Doktorand, seitdem sein langjähriger – freundschaftlich verbundener – Kollege? Festschriften hat er schon zwei: eine kleine aber feine, eher spielerische schon zum 50sten Geburtstag (Georg Langenhorst (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer theologischen Ästhetik. Eine Freundesgabe für Karl-Josef Kuschel zum 50. Geburtstag, Münster 1998), eine große, umfassende zum 60sten (Christoph Gellner/Georg Langenhorst (Hrsg.): Herzstücke. Texte, die das Leben ändern. Ein Lesebuch zu Ehren von Karl-Josef Kuschel, Düsseldorf 2008). Wiederholungen steigern aber den Wert nicht. 

Was es noch nicht gibt, ist eine erste Einführung von außen in sein Werk. Das habe ich nun versucht. Aber in Selbstbescheidung: Augenzwinkernd spricht man im internationalen Forschungsfeld von ›Theologie und Literatur‹ von einer neuen ›Tübinger Schule‹, eben im Blick auf Literatur und Theologie. Nun, diese Perspektive kann ich überschauen. Das zweite große Feld, der imposante Beitrag Kuschels zum Trialog, zum weltreligiösen Panorama, dieses Feld muss einem anderen, einem künftigen Zugang von kompetenterer Seite aus überlassen bleiben.

»Im Dialog mit der Dichtung«, so ist meine Einführung über »Karl-Josef Kuschels narrativ-poetische Theologie« überschrieben. Denn ein Vierfaches ist eben das Besondere seines Zugangs: Am Anfang steht bei ihm die unmittelbare Lektüre, die tiefe, funktionsfreie (!) Ergriffenheit von Dichtung und Texten. Wenn man so will: eine innere dialogische Öffnung. Hinzu tritt bei diesem Theologen das Studium der Germanistik, die doppelte akademische Qualifikation, der dialogische Binnendiskurs im eigenen Denken. Theologische und literaturwissenschaftliche Kompetenzen verschränken sich. Daraus erwachsen drittens ungezählte Begegnungen mit Schriftstellerinnen (ja: hier ist die weibliche Version berechtigt) und Schriftstellern, intensive Gespräche, Dialoge par excellence, die auch nach Jahrzehnten noch spannend nachzulesen sind. Später treten Gesprächspartner*innen auch anderer Provenienz hinzu. Und all das fließt nun viertens zusammen in eine Theologie, die sich wahrhaft dialogisch nennen darf.  Geschult am Vorbild der Literaten schreibt Kuschel so, dass die Lektüre packt und ergreift.

Also, lieber KaJo: Danke für all diese Impulse, die Anregungen, für lehrreiche wie vergnügliche Stunden. Sehr gern überreiche ich Dir diese kleine Einführung in dein Werk. Ich habe von Dir Vieles lernen dürfen. Am Ende auch dies: Dass akademisches Schreiben Spaß machen darf.


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Georg Langenhorst

Georg Langenhorst

Georg Langenhorst, Dr. theol., ist Professor für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik an der Universität Augsburg und Verfasser zahlreicher Bücher im Bereich von…

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Karl-Josef Kuschel

Karl-Josef Kuschel

Dr. Karl-Josef Kuschel, Professor i. R. der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen, lehrte dort von 1995 bis 2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs. Seit 2012…

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