Was Mut mit Wein zu tun hat. Eine Kurzgeschichte

Warum zum Weinkauf manchmal auch ein bisschen Mut dazugehört – davon erzählt Matthias Schlicht in dieser Kurzgeschichte aus seinem Buch »Burgunder und Oliven«.

Lebensweisheit Mut Älter werden

Mein Schwager und ich waren uns sofort einig. Wir überredeten unseren Schwiegervater, setzten ihn mit uns in ein Auto und fuhren für ein Wochenende nach Escherndorf. Mitten in der Mainschleife, wo es am schönsten ist und der Escherndorfer Lump die feinsten Silvaner der Welt hervorbringt. Lange Jahre war unser Schwiegervater mit seiner Frau dorthin gefahren; leider ist sie viel zu früh gestorben. Doch die Landschaft und die freundlichen Winzer hat er nicht vergessen. Ganz allein den weiten Weg zu fahren, das ist doch etwas beschwerlich, und so haben wir die Entscheidung übernommen. »Wir fahren hin. Und du kommst mit.«

Unser Schwiegervater, er heißt übrigens Richard, war begeistert. Also wurde sogleich für das nächste Jahr die nächste Tour geplant. Nun soll es in den Rheingau gehen. Da war er noch nie, und wir auch nicht. Also, los ging es. Der Rheingau ist wirklich eine wunderschöne Landschaft. Auch wenn man keinen Wein mag. Der Rhein liegt wie eingeschmiegt in den Weinbergen, die Sonne glitzert, das Licht und die Farben im Weinberg sind ein Stück vom Paradies. Bei einem Winzer fanden wir Quartier und machten uns – dem Führerschein zuliebe – auf Schusters Rappen auf den Weg durch die Weinberge. Zu den Stätten der geschmackvollsten Rieslinge auf diesem Planeten. Kloster Eberbach, Schloss Vollrads, Schloss Johannisberg.

Nicht zu vergessen die Weingüter mit den bekannten Namen Weil und Allendorf. Letzteren kannte ich noch gar nicht, aber ich werde ihn nie vergessen. Nach einer ganz modern gestalteten Weinführung brachte er uns in das Allerheiligste seines Weingutes. Der alte Weinkeller. Meine Güte! Zwischen Riesenfässern kredenzte (ich weiß kein anderes passendes Wort) er uns einen seiner Spitzenweine. Seine Brust war stolzgeschwellt, zu Recht, denn der Wein war wirklich phantastisch. Leicht und trotzdem voller Geschmack. Noch stolzer wurde der Winzer, als er uns erzählte, dass die deutschen Weinkritiker diesen seinen Wein auf die Top-Position des Jahrgangs gesetzt hatten. Und sie hatten ihm ein »Entwicklungspotential« (heißt: Er wird jedes Jahr der Lagerung noch besser!) von 25 Jahren bescheinigt. Das ist Rheingau-Weltrekord. Der Winzer sprach: »Um das zu überprüfen, müssten Sie nun 25 Flaschen kaufen und jedes Jahr eine probieren. Und dann schreiben Sie mir, wie sich der Wein verändert. 25 Jahre, 25 Flaschen. Kostet nur 500 Euro!« Wir schluckten, nicht nur den Wein. Hinter mir erscholl eine mir vertraute Stimme. »Das mache ich! Ich kaufe die Flaschen. Ich zahle gleich!«

Mein Schwiegervater hatte gesprochen. Mein Schwager und ich schauten uns verwirrt an. 25 Jahre? Schwiegervater hatte gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert. Äh, also, nun ja. Was soll man sagen … Wir sagten nichts, aber er sprach, durchaus im Pathos eines alttestamentlichen Erzvaters: »Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann müsst ihr allein weiterkosten. Aber immer am 1. Oktober. Da hatte mein Vater Geburtstag.« Er sprach’s, er kaufte, und seither treffen wir uns an jedem 1. Oktober bei ihm im Keller und probieren. Wir bemerken tatsächlich die ersten positiven Veränderungen. Aber viel stärker hat sich mein Schwiegervater mit seiner einsamen Weinkellerentscheidung bei mir festgesetzt. Werde ich den Mut haben, mit 75 Jahren für 25 Jahre im Voraus Wein zu kaufen, der sich immer mehr zum Guten verändert? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass ich auch einmal solche Größe in mir spüre. Und diese umsetze.

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