Lu Chi und die Wunschliste seines Schülers

Doris Bewernitz überrascht uns mit neuen Weisheitsgeschichten des kleinen Herrn Lu Chi. Diese Geschichte handelt von einem eifrigem Schüler und der Idee des Wunschlos-glücklich-Seins

Lebensweisheit Inspiration

Lu Chi hatte einen sehr eifrigen Schüler, dessen Ansinnen es war, unbedingt alles richtig zu machen. Er bemühte sich sehr, ihn von diesem irrigen Weg abzubringen. Es nützte nichts. Sein Schüler fuhr fort, ihn bei jeder Verrichtung zu beobachten und alles genauso zu machen wie er. Ständig fragte er ihn nach schwierigen Aufgaben, um seinen Geist zu schulen, und bemühte sich Tag und Nacht, sie möglichst schnell und perfekt zu lösen. Lu Chi sorgte sich um diesen Schüler. Da fiel ihm etwas ein. Er rief ihn zu sich und sagte: »So, ich habe nun endlich eine ganz schwierige Aufgabe für dich. Schreibe jeden Tag deine innigsten Wünsche auf.«
»Aber Meister«, erwiderte der Schüler. »Welche Wünsche denn?«
»Alle die du hast«, sagte Lu Chi.
»Aber geht es denn nicht darum, wunschlos zu werden?«, fragte der Schüler.
»Noch nicht«, sagte Lu Chi. »Tu, was ich dir aufgetragen habe. Und nach einem Monat kommst du zu
mir und wir reden darüber.«

Der Schüler ging davon und schrieb nun täglich seine Wünsche auf. Er wollte Lu Chi am Ende des Monats mit einer möglichst langen Liste beeindrucken. Mal wünschte er sich einen Grießpudding, mal diesen oder jenen zum Freund, mal ein schönes Messer, mal eine Reise, mal, besser als all seine Mitschüler zu sein, mal die sofortige Erleuchtung, mal eine Freundin, mal die Heilung eines gebrochenen Fingers. Täglich schrieb er seine Wünsche auf und staunte, wie viele es waren. Am Ende des Monats ging er zu Lu Chi und wollte ihm die Liste zeigen.

Lu Chi winkte ab. »Die will ich gar nicht sehen«, sagte er. »Ich will nur wissen: Erfüllst du deine Aufgabe gewissenhaft?«
»Ja«, sagte der Schüler.
»So fahre damit fort und komme nach einem Monat wieder«, sagte Lu Chi.

Der Schüler ging irritiert von dannen und fuhr fort, seine Wünsche aufzuschreiben.

Nach einem Monat kam er wieder zu Lu Chi, seine Liste in der Tasche. »Und«, fragte Lu Chi, »erfüllst du deine Aufgabe gewissenhaft?«
»Ja«, sagte der Schüler. »So fahre damit fort und komme nach einem Monat wieder«, sagte Lu Chi.

Der Schüler ging zerknirscht nach Hause und tat, wie ihm geheißen. Gleich setzte er sich hin, um seine Wünsche aufzuschreiben. Doch er musste sich sehr anstrengen, um noch welche zu finden.
Und nachdem drei Wochen um waren und er nun schon 1.836 Wünsche notiert hatte, stellte er plötzlich fest, dass ihm, so sehr er auch grübelte, keine mehr einfielen.

Verzweifelt ging er zu Lu Chi. »Meister«, sagte er, »ich habe versagt. Mir fällt nicht ein einziger Wunsch mehr ein, den ich aufschreiben könnte.«
»Das freut mich«, sagte Lu Chi. »Dann lass uns mit dem Unterricht beginnen.«

Über die Autorin

Doris Bewernitz

Doris Bewernitz

Doris Bewernitz, Schriftstellerin, schreibt Krimis, Romane, Kurzprosa und Lyrik. Ihre Texte erschienen in vielen Printmedien und gewannen etliche literarische Preise. Die meiste Zeit des Jahres…

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Über den Illustrator

Gert Albrecht

Gert Albrecht

Gert Albrecht ist freier Illustrator, Art-Director und Grafik-Designer und arbeitet für Unternehmen, Institutionen, Kinderbuchverlage und Zeitungen. Für DIE ZEIT z.B. hat er Editionen wie die…

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