Die Mutmacher-Initiative »Schwimmen für alle Kinder«

Im Juli fand eine außergewöhnliche Lesung statt. Tübingen las seine Schwimmgeschichten – wie es sich gehört: im Freibad. Ein Gastbeitrag von Ammar Beilschmidt

Aktuelles Veranstaltung Ermutigung Gemeinschaft

Ende Juli 2021 traf im Tübinger Freibad Sport auf Kultur. Dabei entstand eine unterhaltsame Mischung aus lebendiger Kultur und zum Nachdenken anregenden Informationen zum Schwimmen als Sport. An einem lauen Sommerabend erzählte Tübingen seine Geschichten über das Schwimmen, nicht nur als Sport, sondern als spannende Herausforderung, ein Stück Lebensqualität und Lebensversicherung.
Rund 100 Besucherinnen und Besucher aus den unterschiedlichsten Hintergründen und Kulturen kamen zusammen, um vielfältige, berührende und spannende Erfahrungen vom Schwimmen zu hören. Die Geschichten reichten von dem brennenden Wunsch, seit der Kindheit schwimmen zu lernen, bis hin zu Geschichten, in denen Schwimmen ein entscheidender Faktor für das Überleben war. Die gelesenen Erfahrungen stammen aus dem Buch »Meine Schwimmgeschichte«, herausgegeben von Dagmar Müller und der Tübinger Initiative »Schwimmen für alle Kinder«, die zu diesem Leseabend in besonderer Atmosphäre geladen hatte. Moderiert wurde die Lesung von Selina Schambier und Leonie Jacob, beide im Team von »Schwimmen für alle Kinder«.

Im Wasser sind wir alle gleich

Die Besucherschaft war prominent besetzt. Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, MdB, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, sagte zum Thema des Vorleseabends: »Im Wasser sind wir alle gleich. Keiner von uns ist als Schwimmer auf die Welt gekommen. Alle mussten wir es erst lernen, egal ob Junge oder Mädchen, egal ob jung oder alt.«
Aber warum ist Schwimmen ein Thema der Integration? Widmann-Mauz: »Anders als in Deutschland ist das Schwimmenlernen in vielen Ländern nicht Teil der Kultur. Deshalb bedeutet Schwimmenlernen für viele Menschen hier bei uns anzukommen, sich in einer neuen Umgebung, vielleicht auch in einem neuen Land über Wasser zu halten, nicht unterzugehen, die Angst vor dem Unbekannten abzulegen. Schwimmen ist eine Überlebenskompetenz und ganz wichtige Erfahrung für die eigene Entwicklung und das Selbstvertrauen, und das ist sehr wichtig für die Integration.«
Für Dr. Dorothea Kliche-Behnke, Mitglied des Landtags Baden-Württemberg für die SPD, bedeutet »der Zugang zu Schwimmunterricht Zugang zu Bildung. Und dieser muss für alle offen sein, unabhängig von sozialer und kultureller Herkunft.«

Die Veranstalterin Dagmar Müller verwies auf einen weiteren Aspekt des Integrationsthemas, nämlich, dass das Schwimmen eine soziale Funktion hat: »Wir haben beobachtet, dass die Freundschaften unter verschiedenen Kulturen auch nach den Schwimmkursen, die wir mit unserer Initiative »Schwimmen für alle Kinder« anbieten, bestehen bleiben.« Auch Dietmar Rogg, Präsident des Bundesverbands Schwimmbad und Wellness e.V., nannte dies als einen Grund für seine Unterstützung der Initiative: »Schwimmen bringt verschiedene Menschen zusammen und das hilft in der persönlichen und sozialen Entwicklung.«

Aber woher kam die Idee zu dem Mut-Mach-Buch, aus dem vorgelesen wurde? »Das Buch soll mit authentischen Geschichten die emotionalen Erfolge der Schwimmkinder vermitteln und den Mut zum eigenen Handeln stärken. Es erzählen Schwimmkinder, die zu starken Kindern geworden sind. Ergänzt durch Schwimmgeschichten von Menschen aus dem öffentlichen Leben, ist das Buch ein Weckruf an alle, dass die Schwimmsicherheit unserer Kinder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist«, so Müller.

Schwimmen für alle Kinder

Hinter diesem sportlichen Kulturabend, bei dem viele Ehrenamtliche und Unterstützer der Initiative geehrt wurden, stand also etwas Größeres, nämlich der Wunsch, auf das Projekt »Schwimmen für alle Kinder« aufmerksam zu machen. Dieses begann im Jahr 2015 als eine ehrenamtliche Initiative in Kooperation mit dem Runden Tisch Kinderarmut der Universitätsstadt Tübingen, die im Förderverein Lokales Bündnis für Familie Tübingen e.V. organisiert ist. Das Ziel der Initiative ist es, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen aus Familien mit wenig Geld ebenso wie aus Flüchtlingsfamilien die Chance zu bieten, kostenfrei schwimmsicher zu werden. Das Team fördert die Teilnehmenden individuell vom Nichtschwimmer bis zur Schwimmsicherheit, die mit dem Abschluss des Deutschen Schwimmabzeichens Bronze geprüft wird. Das ehrenamtliche, multinationale Team legt Wert auf Qualität in der Schwimmausbildung. »Schwimmen zu lernen sichert Überleben«, sagt Dagmar Müller und ergänzt: »Was wir als Team bei vielen Kindern erlebt haben, ist die Kraft des gemeinsamen Lernens, die Energie, die aus persönlichen Erfolgen beim Schwimmenlernen gewonnen wird, und das Glück, das jede und jeder einzelne von uns empfindet, wenn ein unsicheres Kind zu einem selbstbewussten Kind wird, das voller Stolz von seiner eigenen Leistung erzählt.«

Deutschland schwimmt nicht mehr

Eine DLRG-Umfrage aus dem Jahr 2019 hat ergeben, dass 59 Prozent der Kinder, die die Grundschule verlassen, nicht schwimmsicher sind.
Schwimmt Deutschland trotzdem? »Nein, wir schwimmen nicht mehr«, sagt Alexander Gallitz, Präsident des Deutschen Schwimmlehrerverbands e.V. und Gründer der Stiftung »Deutschland schwimmt«. Viele Kinder lernten nicht mehr schwimmen und die Lehrer seien von der Situation überfordert. Er fügt hinzu: »Initiativen wie »Schwimmen für alle Kinder« helfen viel, aber wir brauchen noch mehr. Und wir können es kaum erwarten, dass die Politik etwas tut. Wir brauchen eine klare Strategie.«
Dem stimmt Andreas Felchle, Präsident des Württembergischen Landessportbundes e.V., zu: »Dass mehr als 50 Prozent aller 10-jährigen Kinder nicht schwimmen können, ist eine üble Entwicklung, die wir als Württembergischer Landessportbund mit Sorge betrachten. Das ist ein Prozess der vergangenen zehn, 20 Jahre, der fatal und höchst gefährlich ist.« Als Gründe für diese Entwicklung sieht er die Schließung von Hallenbädern, das Heranwachsen einer »Generation zunehmender Immobilität« und nicht zuletzt die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die dazu führt, dass viele Eltern ihren Kindern nicht mehr das Schwimmen beibringen. »Deshalb sind wir von diesem Projekt so begeistert.«
Auch Dr. Daniela Harsch, Bürgermeisterin für Soziales, Ordnung und Kultur der Universitätsstadt Tübingen, findet, dass Initiativen wie »Schwimmen für alle Kinder« viel bewirken, denn sie machen das Thema sichtbar. »Wir müssen mehr investieren, damit die Kinder vor der Grundschule, aber auch in der Grundschule besser schwimmen lernen können. Es ist einfach gefährlich, nicht schwimmen zu können«, so Harsch.

Offene Fragen

Tübingen hat seine Schwimmgeschichten gelesen. Einige der Geschichten waren wunderschön und andere waren voller Schmerz, einige aufregend und andere voller Ideen und Weisheit. Doch die Frage, die noch nicht beantwortet wurde, lautet: Wie ändern wir die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Kinder in Deutschland, die die Grundschule verlassen, nicht schwimmen können? Und wie können wir allen Kindern den Zugang zum Schwimmunterricht ermöglichen? Ja, die Mutmacher-Initiative »Schwimmen für alle Kinder« schickt einen Weckruf an alle – jetzt müssen Taten folgen.

Das Buch zur Veranstaltung:

Dagmar Müller (Hg.) / Schwimmen für alle Kinder (Hg.)
Meine Schwimmgeschichte
Ein Mut-Mach-Buch zum Lesen, Vorlesen, Nachdenken und Anschauen

»Fast sechzig Prozent der Grundschüler können mangels Sportunterrichtes oder wegen fehlender Bäder nicht sicher schwimmen. Das ist genauso erschreckend wie die Tatsache, dass über die Hälfte der Deutschen übergewichtig ist.
Dieses wichtige Buch zeigt in unterhaltsamer und zugleich inspirativer Weise auf, wie lebensnotwendig es ist, schwimmen zu können und wie wundervoll es sich anfühlt, schwimmen zu lernen. In dem von zu Herzen gehenden Erfahrungsbeiträgen nur so sprudelnden Band haben sich neben vielen anderen Prominenten auch Gesundheitsminister Jens Spahn und Ministerpräsident Winfried Kretschmann eingebracht.«
Reutlinger General-Anzeiger