Die Bilderwelt von Gabriele Münter im Advent
Was die Bilder der Künstlerin so besonders machen und wie sie den Blick der Betrachter:innen öffnen. Ein Text von Ulrich Peters.
Inspiration Advent»Lege dein Ohr an dein Herz und horche«, der Satz findet sich im Briefwechsel zwischen der Malerin Gabriele Münter (1877–1962) und ihrem lang jährigen Lehrer, Geliebten und Lebensgefährten Wassily Kandinsky. Kandinsky hatte die außergewöhnliche Begabung, das Talent und die künstlerische Virtuosität Münters schon früh erkannt. In einer der (nicht gerade seltenen) Situationen indes, in der sich Gabriele Münter einmal mehr über die Qualität ihres Schaffens verunsichert zeigte, schreibt ihr Kandinsky: »Um dich ist mir nicht bange, lege nur dein Ohr an dein Herz und horche.«
Was sie dabei hörte, illustriert das umfängliche Werk der bedeutenden Expressionistin und Mitbegründerin des »Blauen Reiters«. Es legt in seiner leuchtenden Pracht, thematischen Fülle, Experimentierfreude, seinem Formenreichtum und seiner intensiv-glühenden Farbenvielfalt ein faszinierendes Zeugnis davon ab, wie Gabriele Münter sich den Rat Kandinskys‘ zu Herzen nahm. Ihre Bilder sind von ganz außergewöhnlicher Ausdruckskraft und zugleich großer Innig- und Innerlichkeit. Sie durchdringen die vordergründige Wirklichkeit, öffnen den Blick der Betrachterinnen und Betrachter, führen ihn durch die Motive ihrer Gemälde hindurch, berühren den Grund der Dinge und lenken die Aufmerksamkeit auf das, was wirklich wesentlich ist an den Motiven und Menschen, die sie malt.
Gabriele Münter hat (abgesehen von ihren von der Volkskunst inspirierten Arbeiten) kein ausgesprochen religiöses Werk hinterlassen. Sie sah sich selbst, ganz im Sinne Johann Wolfgang von Goethes, den sie über alle Maßen schätzte, als »Weltkind«. Insofern mag es verwundern, ihre Bilder mit dem Advent in Verbindung zu bringen. Dieser Atelierbesuch erweist sich jedoch als eine ungewöhnlich fruchtbare Begegnung mit dem Werk einer hochgebildeten, souveränen, eigenständigen, temperamentvollen, früh emanzipierten, polyglotten, weltoffenen und erstaunlich modernen Frau und Künstlerpersönlichkeit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert und während der Kriege, Krisen, Katastrophen und Neuaufbrüche der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Durch ihr Schaffen – das ähnelt heutigem religiösen Empfinden – zieht sich eine unausgesprochen tiefe Sehnsucht und Suche nach Sinn und dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Eine Sehnsucht, die man – ohne sie vorschnell vereinnahmen zu wollen – gewiss als elementar spirituell bezeichnen darf.
»Lege dein Ohr an dein Herz und horche« – ein Künstlerinnen-Adventskalender, wie es ihn nur aus dem Verlag am Eschbach gibt. Gleichermaßen berührend und inspirierend. Er lädt ein, auf dem Weg durch den Advent immer wieder innezuhalten, die Bilderwelt Gabriele Münters und in ihr eine ganze Palette wesentlicher Erfahrungen (neu) zu entdecken, die dem Advent seine ganz eigene Prägung und Farben verleihen: offen und erwartungsvoll zu bleiben zum Beispiel, aufmerksam, neugierig, nachdenklich, beseelt, horchend und wahrnehmend das Ohr stets am Herzen zu halten. Dann geschieht, was Gabriele Münter im Blick auf das Zeichnen als »Verwandlung der Wirklichkeit« bezeichnet hat. Sie hebe das Wesentliche freier aus der Masse der Eindrücke ab und stelle es schärfer und klarer hin.
Dieser Text ist in unserem Kundenmagazin Herbst 2025 erschienen.
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