Türchen 6 – Über Otfried Preußlers »Flucht nach Ägypten«
Heute können Sie das Nachwort von Wolfgang Fuhrmann lesen, das er für die lesefreundliche Neuausgabe der »Flucht nach Ägypten« von Otfried Preußler geschrieben hat.
Advent WeihnachtenRogier van der Weydens Anbetung der Könige zeigt die aus der Weihnachtslegende vertraute Szene. Der Älteste der drei Könige, niederknieend und mit entblößtem Haupt, küsst soeben die Hand des Jesusknaben. Wenn sich der Blick von diesem Kuss ausgehend nach oben bewegt, entdeckt er an der mittleren Säule des ärmlichen Stalls ein kleines Kruzifix. Keine Figur im Bild scheint es zu beachten.
Wie jedes geistliche Bild jener Zeit ist auch Rogiers um 1455 geschaffenes Gemälde voll bewusster Anachronismen. Die damaligen Künstler zeigten Gewänder, Mobiliar und Architektur ihrer Gegenwart; die Heilsgeschichte sollte immer aktuell und gegenwärtig bleiben. Doch das Kruzifix im Stall bringt sogar die interne Chronologie durcheinander: Christus ist gerade erst geboren, da ist sein Tod am Kreuz bereits Tatsache der Erinnerung.
Ich weiß nicht, ob Otfried Preußler seine Flucht nach Ägypten – sie setzt genau in dem Moment ein, in dem die Heiligen Drei Könige den Stall wieder verlassen haben – in bewusster Anlehnung an die Kunstgeschichte so erzählt hat, wie er es tat. Jedenfalls ging er mit derselben Unbekümmertheit um Anachronismen ans Werk.
Nur ist es nicht das Böhmen des Jahres 1978, das er da beschreibt, sondern ein halb mythisches Böhmen irgendwann innerhalb der von 1848 bis 1916 dauernden Regierung des Habsburger-Kaisers Franz Joseph. Preußler versetzt damit die Geschichte zwar in einen geographischen Raum, der ihm selbst seit seiner Geburt im nordböhmischen Reichenberg innig vertraut war, aber in eine Zeit, die er, Jahrgang 1923, gar nicht selbst erlebt hatte. Reichenberg heißt heute Liberec, und in dieser Namenswandlung ist schon ein Grund für die Zeitwahl Preußlers zu finden: Seine böhmische Heimat, in der deutsch- und tschechischsprachige Landsleute spannungsreich nebeneinanderher gelebt hatten, war durch den Zweiten Weltkrieg und die Beneš-Dekrete endgültig dahin. Im Roman wird dieser zerstörerische Nationalismus auf beiden Seiten sanft parodiert in der doppel- und hintersinnigen Gegnerschaft der beiden Herren Jaroslav Vojtěch Weishäuptl und Joseph Sigisbert Bělohlavek. Während Preußler im Kirchlein bei Seigersdorf eine Überwindung religiöser Gegnerschaft in der gemeinsamen Huldigung durch Katholiken und Lutheraner, Jan Hus und Rabbi Loew inszeniert hat, schien ihm gegen den Spaltpilz des Nationalismus kein Kraut gewachsen.
Der nach fünf Jahren russischer Kriegsgefangenschaft 1949 heimgekehrte Preußler war nicht nur von aller Ideologieanfälligkeit gründlich kuriert. Er hatte auch seine Heimat verloren. Er fand sie nur noch in der Erinnerung an die Erzählungen seiner Großmütter, denen er, wie er zu Beginn des Romans bekennt, die Legende vom Zug der Heiligen Familie durch Böhmen verdankte. So versuchte er 1978, seine Heimat gleichsam durch diese Legende wieder zu beschwören.
Dieses heimatliche Böhmen, als Lebenswelt unwiderruflich dahin, nimmt Präsenz an in Preußlers episch gelassener Sprache: jenem Idiom der Habsburgermonarchie, das man als »böhmakeln« bezeichnet, in dem ein Hauptsatz mit »nämlich« eröffnet wird, in dem dann und wann ein gemütliches »no« eingeschoben wird, ein Tier »Viech« heißt und ein bisschen zum »bissl« wird. Präsent ist die verschwundene Heimat aber auch in der Gelassenheit, mit der der k. k. Gendarmeriepostenkommandant Leopold Hawlitschek bei seinen Ermittlungen keineswegs auf sein leibliches Wohl Verzicht tut, schon gar nicht, wenn ihm die resche Witwe Machatschka eine Rindssuppe mit Nudeln, einen Schweinebraten mit böhmischen Knödeln und Marillenkompott und zum Nachtisch Mohn- und Powidlkolatschen serviert. Köstlich und (ernährungstechnisch) höchst unkorrekt ist dieses Essen, wie in mancher Hinsicht auch die böhmakelnde Sprache selbst.
Die epische Gelassenheit von Preußlers Fabulieren (sie zeigt sich schon in den barocken Kapitelüberschriften) machen wir uns als Leser gerne zu eigen. Wissen wir doch, wie die Verfolgungsjagd durchs winterliche Böhmen ausgehen wird. Nur die Hölle, für die es ums Ganze geht, bewahrt kaum die Contenance. Der übereifrige Mittlere Oberteufel auf Probe Pekloslav Pospišil, auf den Fall angesetzt, fährt sogar einem Hund ein, um den Hawlitschek in seiner Suche anzutreiben und zu überwachen gleichzeitig. (Eine Katze, diese selbstbewusste und anmutige Kreatur, hätte dem Teufel da die Krallen gezeigt!) Und so können wir dem hündisch der Heiligen Familie hinterherhechelnden Pospišil schadenfroh dabei zusehen, wie all seine Listen sich – durch die List der göttlichen Vernunft – gegen ihn selbst wenden.
Die epische Gelassenheit Preußlers verschweigt nicht den Schmerz und den Tod, bei dem auch ein Wunder nur noch zu lindern, nicht mehr abzuhelfen vermag; und damit sind wir wieder bei dem Bild von Rogier van der Weyden. Im 25. Kapitel ist es Maria selbst, die bei der Sonntagsmesse ein Kruzifix erblickt und begreift, dass »ihr lieber und leiblicher Sohn es ist, welchen man da mit Dornen bekrönt und ans Kreuz geschlagen hat«. Da trifft es sie »mit sieben Schwertern«, da wird die Allgegenwärtigkeit der Heilsgeschichte zur bittersten Erfahrung. Und doch bleibt Preußler auch hier sanfter Humorist: Denn als Josef die Trauer in ihrem Gesicht sah – da hat er »aus Mitleid sich unwillkürlich vor ihr bekreuzigt«.
(Nachwort von Wolfgang Fuhrmann im Buch »Die Flucht nach Ägypten«)