Türchen 6 – Das Märchen vom vergessenen Weihnachtsengel
Über einen fast ganz gewöhnlichen kleinen Engel handelt die Geschichte, die uns Ulrich Peters heute am Nikolaustag präsentiert.
Advent WeihnachtenDas Märchen vom vergessenen Weihnachtsengel
Weihnachtsengel gibt es ohne Zahl, unübersehbar und überall – kleine und große, dicke und dünne, goldene und strahlend weiße, lustige, lachende und solche, die sehr, sehr ernst dreinblicken. Es ist, als ob sie geradewegs aus Betlehem in unsere Welt gewandert wären. In den Auslagen der Geschäfte sehen sie uns an. Wir begegnen ihnen in der Weihnachtsdekoration an allen möglichen und unmöglichen Orten. Meine Familie sammelt Weihnachtsengel. Alle Jahre wieder zieht ein beständig wachsendes buntes Völkchen für einige der schönsten Wochen in unser Wohnzimmer und nimmt seinen angestammten Platz auf dem alten Schrank ein.
Würden wir die Engel vergessen, es wäre nicht wirklich Weihnachten – und was für die Engel auf unserem alten Wohnzimmerschrank gilt, galt nicht weniger für einen anderen kleinen Kerl.
Eigentlich war er nur ein ganz gewöhnlicher kleiner Engel. Einverstanden, ganz gewöhnlich vielleicht nicht, denn er war ausgewählt worden: Zusammen mit einigen anderen Engeln durfte er bei der Geburt Jesu dabei sein. Damit hatte er selbst am allerwenigsten gerechnet. Er hatte ja kaum genügend Zeit gehabt, sich im Himmel einzuleben. Aber die Aussicht, schon bald wieder einen Fuß auf die geliebte alte Mutter Erde setzen zu dürfen, erfüllte den kleinen Kerl mit großem Glück.
Der Himmel war schön, sehr schön sogar. Es fehlte ihm hier an nichts. Außer vielleicht ... na ja, wenn er ehrlich war, fehlten ihm seine Freunde und Spielkameraden, der Geruch von Erde, das Gefühl warmen Sonnenlichts auf seiner Haut, der erfrischende Regen und kühlende Schnee, ein kräftiger Wind, der einem um die Nase weht, der Geschmack, Süßes, Saures, Salziges ... Kurzum: Der kleine Kerl konnte es kaum erwarten, wieder auf die Erde zu kommen.
Wann immer sich der himmlische Chor traf, um für den großen Tag zu proben – der kleine Engel war als erster da. Voll gespannter Vorfreude sang er klarer und heller als alle anderen. Keiner war so eifrig, wenn es darum ging, die himmlischen Instrumente zu putzen und für den großen Tag auf Hochglanz zu polieren.
Dann war es endlich soweit. Zur Mitte der Nacht öffnete sich der Himmel, und Maria brachte den kleinen Jesus als ein ganz normales Kind zur Welt. Die Menschen, die dafür aufmerksam waren, hörten die Engel singen – und das kommt nicht sehr häufig vor. Wie genoss der kleine Engel diese unvergleichlich festlich leuchtende Nacht. Ein Glanz ging von der jungen Familie aus, wie er ihn bislang nur ein einziges Mal gesehen hatte – in dem Moment nämlich, als sich die Tür zu Gottes Thronsaal geöffnet hatte und der große Engel feierlich hervortrat, um ihnen davon zu berichten, dass Gott beschlossen hatte, Mensch zu werden.
Es war ein warmer, golden glühender Glanz wie Sonnenschein und Sternenlicht und flackerte fröhlich wie eine tausendfach funkelnde Flamme. Das Licht war zwischen den Türritzen hervorgekrochen, hatte den großen Engel erfasst und tauchte alles um ihn herum in einen geheimnisvoll schimmernden Schein. Was mochte das für ein Licht sein? Während sich der kleine Engel noch danach fragte, raunte ein anderer Engel, der dabeistand und seinen fragenden Blick wohl verstanden hatte:
»Es ist das Lebenslicht. ER selbst hat es entzündet.«
»Aber womit«, flüsterte der kleine Kerl zurück, »womit entzündet man das Lebenslicht?« »Mit Liebe. Nur Liebe bringt das Lebenslicht zum Leuchten.« (...)