Zum Tod des Exegeten und Theologen Ulrich Wilckens

Der Patmos Verlag trauert um seinen Autor, Herrn Bischof i.R. Professor em. Dr. theol. Ulrich Wilckens (1928–2021), der am 25. Oktober 2021 in Bad Oldesloe verstorben ist.

Aktuelles

Herr Professor Ulrich Wilckens war einer der herausragenden und wirkmächtigsten Bibelwissenschaftler über viele Jahrzehnte hinweg. Er lehrte Neues Testament in Marburg, Berlin und Hamburg. Von 1981 bis 1991 war er Bischof des Sprengels Holstein-Lübeck in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.

Im Patmos Verlag erschien von ihm im Rahmen des Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament, zu dessen Herausgeberkreis er lange Jahre gehörte, seine umfassende, dreibändige Kommentierung des Römerbriefs des Paulus.

In Dankbarkeit und Anerkennung gedenken wir seiner. Möge er ruhen in Frieden.


Nachruf des Herausgeberkreises des »Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament«

Ulrich Wilckens ist gestorben. R.i.p.

Am 25. Oktober 2021 ist Ulrich Wilckens gestorben, im hohen Alter von 93 Jahren. Er war als Neutestamentler mit der Geschichte des Evangelisch-Katholischen Kommentars von Anfang an verbunden. Er gehörte zwar nicht zu seinen Gründern, aber bereits in der ersten Generation zu den Mitarbeitern und lange Jahre zu den Herausgebern. Er hat sich aktiv in die konzeptionelle Entwicklung des Kommentarwerks eingeschaltet. Viel zitiert wird seine programmatische Studie »Was heißt bei Paulus: ›Aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht?‹«, die erstmals 1969 in den Vorarbeiten zum EKK publiziert worden ist. Sie ist im Dialog mit dem viel zu früh verstorbenen Josef Blank (1926–1989) entstanden, der als katholischer Exeget zum selben Thema, vom Galaterbrief aus, eine These vertrat, die Anschluss an die damals herrschende protestantische Deutung der Rechtfertigungslehre als Kritik der Leistungsgerechtigkeit suchte, mit unverkennbar kirchenkritischen Tönen, während Wilckens die anthropozentrische Deutung zwar nicht aufgab, aber nach weiter gespannten Interpretationshorizonten suchte.

In seinem magistralen Römerbriefkommentar, der in drei Bänden von 1978 bis 1982 erstmals erschien und hernach mehrfache Neuauflagen erlebt hat, konnte Ulrich Wilckens diese Ansätze konsequent entwickeln und zur Reife bringen. In seinen akademischen Qualifikationsschriften über die paulinische Kreuzestheologie (Weisheit und Torheit, 1959) und die Tradition der Petrus- und Paulusreden in der Apostelgeschichte (Missionsreden, 1961) hatte er, im erweiterten Ausstrahlungsbereich Rudolf Bultmanns, eher die Paradoxien theologischer Erkenntnis und die Unsicherheiten historischer Referenzen betont. Im Gespräch mit Wolfhart Pannenberg ließ er sich aber überzeugen, »Offenbarung als Geschichte« (1961) zu denken. Gleichzeitig öffnete er sich, von 1960–1968 Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Berlin und im Anschluss bis 1981 an der Universität Hamburg, der Ökumene, besonders dem Dialog mit der katholischen Theologie. Wichtig wurden ihm die langjährigen Forschungen des »Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen«, dem er lange Zeit angehörte. Im Vorfeld der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (1999) haben sie zur programmatischen Aufarbeitung der »Lehrverurteilungen« aus dem 16. Jh. geführt und die Hermeneutik des differenzierten Konsenses entwickelt (1986). Dadurch wurde auch das wissenschaftliche Untersuchungsfeld der Paulusexegese neu exploriert. Ulrich Wilckens war eine treibende Kraft.

Er gehörte zu der Generation, die mit dem jüdisch-christlichen Dialog neu zu beginnen sich vorgenommen hatte. Allerdings wollte er, in einer 1974 ausgetragenen Kontroverse mit David Flusser, das »Wahrheitsmoment« verteidigen, das er in den antijüdischen Polemiken des Neuen Testaments zu erkennen meinte. Immerhin gestand er im Disput ein, dass es nicht angehe, die neutestamentlichen Positionen ohne Berücksichtigung ihrer historischen Entstehungs- und ihrer tradierten Wirkungskontexte zu reflektieren, besonders im Blick auf den grassierenden Antijudaismus, der entschieden zu bekämpfen sei.

Beide Herausforderungen zusammen, die evangelisch-katholische und die jüdisch-christliche, haben tiefe Spuren in den drei Bänden des Kommentares hinterlassen. Es ist selbstverständlich, dass Wilckens, auf der Basis des internationalen Forschungsstandes, den überlieferten Text des Römerbriefes souverän historisch verortet und penibel philologisch analysiert hat. Ein besonderes Markenzeichen des Kommentares sind die profunden »Exkurse« geworden, die an den entscheidenden Stellen die Wirkungsgeschichte des Römerbriefes mit der Exegese verschalten: Evangelium, Gericht nach den Werken, Gewissen, Sühne, vor allem: Gerechtigkeit Gottes – schon der erste Band setzt den Ton. Wilckens arbeitet die Differenzen zwischen der paulinischen und der lutherischen wie der tridentinischen Rechtfertigungslehre klar heraus, ohne aber doch unvereinbare Widersprüche aufdecken zu wollen oder einfach das Spektrum faktischer Deutungspositionen zu dokumentieren. Der Kommentar ist von der Frage nach der Wahrheit des Evangeliums und der Richtigkeit von Auslegungen bewegt. Dieses Ethos verleiht der Exegese Strenge und Weite: Strenge in der Verwerfung von konfessionalistischen Projektionen, Weite in der Suche nach dem paulinischen Ursprungssinn, der als Referenzpunkt aller traditioneller Deutungen zu einer Inspirationsquelle werden soll, das jeweilige Recht von Alternative zu erkennen und einer theologischen Urteilsbildung vorzuarbeiten, die nicht den Dissens denunzieren, aber den Konsens als vermittelte Vielfalt vorantreiben will. Hier hat sein Römerbrief-Kommentar Maßstäbe einer ökumenischen Exegese gesetzt, die bis heute wichtig sind.

Nicht dieselbe Resonanz hat das ausgelöst, was Wilckens mit Röm 9–11 zur bleibenden Sendung und kommenden Rettung Israels ausgeführt hat. Seine Verdienste sind unbestritten, dass er, in einem deutschsprachigen Kommentar erstmals, die Qumran-Texte methodisch in die Auslegung einbezog. Dies half ihm, die ältere Auffassung zu überwinden, das Judentum sei eine Religion der Leistungsgerechtigkeit und insofern (angeblich) dem Christentum moralisch unterlegen. Aber sein Verständnis des sola fide und sola scriptura, das bei all seinem persönlichen Charme, den er zu entwickeln vermochte, auch durchaus harsche Züge annehmen konnte, erlaubte es ihm nicht, die universale Heilsbedeutung Jesu Christi, von der Paulus im Glauben überzeugt ist, so zu deuten, dass nicht die persönliche Konversion zum Christusbekenntnis der einzig verheißene Rettungsweg sei.

In einer dunklen Stunde der Bonner Republik, beim Tod des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, hat Ulrich Wilckens, 1981 bis 1991 Bischof der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, eine wichtige Rolle bei der Deutung des erschütternden Geschehens und bei der Versöhnung einer zerrissenen Gesellschaft gespielt. Der theologische Hintergrund seines bewegenden Redens und Handelns ist in der Auslegung von Röm 13,1–7 nachzulesen, die einen Schwerpunkt des dritten Kommentarbandes im EKK bildet: politisch das Böse ins Unrecht, das Gute ins Recht zu setzen – und die nötigen Aushandlungsprozesse pastoral zu unterstützen.

Ulrich Wilckens hat sich mit neueren Entwicklungen in seiner evangelischen Kirche, aber auch in der katholischen Kirche sehr schwer getan, wenn sie ihm zu liberal schienen, zu weit entfernt von dem, was ihn als Evangelium überzeugt hat. Sein Römerbrief-Kommentar ist als Meilenstein ökumenischer Exegese anerkannt.

Es bleibt der Respekt für ein beeindruckendes Lebenswerk, das nach seinem Ausscheiden aus dem kirchenleitenden Amt noch zu einer mehrbändigen »Theologie des Neuen Testaments« geführt hat (2002–2009). Es bleibt die lebendige Erinnerung an einen stets streitbaren, bekenntnisfesten und wachen Geist, der seinen tiefen Glauben mit wissenschaftlicher Redlichkeit verbinden wollte. Es bleibt die Dankbarkeit für die programmatische Kraft in der Profilierung des EKK-Projekts, Exegese als Theologie zu treiben und Ökumene als Inspirationsquelle zu entdecken.

Vor allem bleibt die Hoffnung, die Paulus in den Römerbrief geschrieben hat, in der Übersetzung von Ulrich Wilckens: »Wenn wir also leben, wie ebenso wenn wir sterben, gehören wir dem Herrn« (Röm 14,8).

Für die Herausgeberin und die Herausgeber
Thomas Söding
am Reformationsfest 2021

 


Ulrich Wilckens

Ulrich Wilckens

Ulrich Wilckens, Dr. theol. (1928-2021), war 1958-1960 Dozent für Neues Testament in Marburg, 1960-1968 Professor für Neues Testament in Berlin und 1968-1981 in Hamburg. 1981-1991 war er Bischof des…

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