»Wir alle sind Teil des Problems, aber wir können auch Teil der Lösung sein.«

Christine Bierschenk im Gespräch über Resilienz und was ihr in Ausnahmesituationen hilft. Aus unserer Reihe »Was stärkt uns in Krisenzeiten«

Resilienz Interview Natur

Wir leben in äußerst herausfordernden und belastenden Zeiten. Viele Menschen fragen sich, was sie tun können, um seelisch unbeschadet durch diese schwierigen Zeiten zu kommen.
In unserer kleinen Interview-Reihe »Was stärkt uns in Krisenzeiten?« sprechen wir mit Menschen, die sich seit vielen Jahren eben dieser Frage auf ganz unterschiedliche Weise genähert haben. Sie erzählen uns, was ihnen in Ausnahmesituationen hilft und wie sie ihre Resilienz stärken, ihre seelischen Widerstandskräfte fördern.

Heute im Gespräch: Christine Bierschenk

 

Christine Bierschenk ist gelernte Landschaftsgärtnerin und hat in Osnabrück und Angers, Frankreich, Landschaftsarchitektur studiert. Heute gestaltet sie freiberuflich Spiellandschaften, Therapiegärten und grüne Orte im öffentlichen Raum. Nach häufig zu vielen Stunden am Bildschirm sind für sie Spaziergänge im Wald mehr und mehr Kraftgeber und Inspirationsquelle geworden. Über sich selbst sagt sie: »Wenn nichts mehr geht, gehe ich raus in den Wald«.


Lebe gut: Frau Bierschenk, was stärkt Sie in Krisenzeiten?

Christine Bierschenk: Ich habe das Glück, in der Nähe eines Waldes zu wohnen und habe ihn in den letzten Monaten noch stärker als Ruhe- und Kraftort für mich entdeckt. Gerade wenn der Kopf um ein Thema oder ein Problem kreist, stecke ich manchmal regelrecht fest. Im Losgehen bemerke ich bald, dass sich gedanklich etwas verändert. Zu Beginn meines Spaziergangs muss ich eine Steigung bewältigen, die je nach Schritttempo den Atem beschleunigt und tiefer werden lässt. Oben ankommen ist der Kopf bereits durchgelüftet, und die zuvor hin und her gewälzten Gedanken treten zurück. Die Höhe ermöglicht mir den Blick in die Landschaft. Plötzlich schaue ich nicht mehr in dieser kurzen Entfernung, wie es im Innenraum nur möglich ist, sondern blicke weiter. Und das meine ich durchaus im physischen Sinn, also bezogen auf die Augen, als auch im gedanklichen Sinne. Die Gedanken schweifen weiter. Der Himmel, die Geräuschkulisse der Natur, der Blick in die Kronen sind sinnliche Eindrücke, die Offenheit vermitteln.
Ich habe im Wald einen Lieblingsbaum, den ich immer aufsuche. Dort habe ich ein Stück Holz versteckt, das ich als Sitzkissen nutze. Angelehnt an den Stamm verweile ich eine Zeitlang, schließe die Augen und lausche nur den Geräuschen um mich herum. Gerade an diesem Platz kommt mir fast immer eine spontane Idee, ein neuer Einfall, eine Lösungsmöglichkeit in den Sinn. Wenn ich dann später zurückgehe, fühlen sich Kopf und Körper viel leichter und freier an.

Lebe gut: Wenn Ängste und Sorgen doch überhandnehmen – zu welchen »Notfallmaßnahmen« greifen Sie?

Christine Bierschenk: Ich übe mich seit einigen Jahren in Yoga und Mediation. Auch wenn ich in beidem (noch) keine Meisterschaft erreicht habe, hilft es mir, zur Ruhe zu kommen und abzuschalten. Ich kann dabei den erlebten Blick in die Baumkrone und in die Weite der Landschaft wieder vor mir sehen und so das Walderlebnis erneut zu mir holen. Dabei setze ich gerne ätherische Baumöle ein, die mir den Waldduft ins Zimmer bringen. Die Erholungswirkung des Waldes beruht ja auch auf den von Bäumen freigesetzten Düften und Inhaltsstoffen. Sie wirken positiv auf unser Immunsystem, beruhigen und entspannen. Mit der Herstellung reiner ätherischer Öle gehen diese Stoffe in das Öl über und werden in Verbindung mit Luft wieder freigesetzt. In jedem Tropfen steckt so ein Mini-Walderlebnis. Ich sammle auch gerne Zapfen oder Rindenstücke im Wald. Zuhause gebe ich dann ein oder zwei Tropfen ätherisches Öl auf ihre Oberfläche und lege sie in meine Nähe, zum Beispiel auf meinen Schreibtisch. So spüre ich die positive Wirkung der Bäume auch beim Arbeiten.

Lebe gut: Schauen wir gemeinsam in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für sich und Ihre Mitmenschen?

Christine Bierschenk: Ich wünsche mir, dass alle, oder zumindest viel mehr Menschen, erkennen, wie nah wir immer noch in alle Rhythmen der Natur eingebunden sind, wie sehr wir von ihr abhängen und sie brauchen, gerade in unserem oft digital geprägten Leben. An einem einzigen Beispiel lässt sich unsere Verbundenheit mit Bäumen leicht erklären: Ohne Pflanzen als Sauerstoffproduzenten wäre kein Leben auf der Erde möglich. Wir atmen alle dieselbe Luft, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Alles ist mit allem verbunden. Ich glaube, das haben wir noch nie so deutlich gespürt wie in den letzten Monaten. Wir atmen alle. Dieser einzige Fakt sollte uns ausreichen, um den Wert von Bäumen zu erkennen.
Als das Buch »Kraftort Wald« quasi fertig war, habe mich gefragt, ob ein Buch über Bäume die drängenden Fragen unserer Zeit aussparen darf; globale Fragen zu Klimawandel, Umweltzerstörung oder Pandemie, lokale Fragen zu Hitzesommern, Wasserknappheit, Trockenschäden an Bäumen, Schädlingswellen usw. Die Frage versuche ich in einem kleinen Nachwort selbst zu beantworten. Es soll nicht so aussehen, dass ich diese wirklich wichtigen Themen vergessen habe, weil ich sie im Buch nicht anspreche. Mir ist es wichtig, dass wir die komplexe Vernetzung von Mensch und Natur verstehen und unsere Abhängigkeit von der Natur erkennen. Wir sind täglich von negativen Nachrichten umgeben. Ich denke, nur das Schöne hat eine Kraft, die uns inspiriert und vorantreibt. Konzentrieren wir uns auf das Schöne in der Natur, öffnen wir uns für die Zusammenhänge des Lebens. Ich wünsche mir, dass wir alle über das sinnliche Begreifen den eigenen Blick wandeln und (wieder) mehr Kontakt zur Natur finden. Wir alle sind Teil des Problems, aber wir können auch Teil der Lösung sein.

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