Wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen

Jan Frerichs im Interview über die »Wilde Kirche« und unseren spirituellen Platz in der Welt

Interview Glaube Natur Achtsamkeit

Lebe gut: Was ist die »Wilde Kirche« und wie kann ich da Mitglied werden?

Jan Frerichs: Gar nicht. In die WILDE KIRCHE kann man weder eintreten, noch austreten. Genauso wenig, wie wir aus diesem Universum ein- oder austreten können. In die WILDE KIRCHE werden wir genauso hineingeboren, wie wir in diese Welt kommen: Wir sind einfach ein Teil davon.

Lebe gut: Aber warum dann der Begriff »Kirche«?

Jan Frerichs: Weil es schon um Spiritualität geht und Kirche ist der Ort in unserer Kultur, an dem es um Spiritualität geht. Das Wort »Kirche« kommt vom Griechischen Kyriakon – und das heißt Gotteshaus. Ich verstehe das symbolisch: Die WILDE KIRCHE ist die ganze Schöpfung und wir als Geschöpfe sind die Gemeinde in diesem großen Haus. Papst Franziskus spricht in seiner Öko-Enzyklika auch von »unserem gemeinsamen Haus«, also dem Haus, das wir alle bewohnen, egal welcher Konfession oder Nation wir angehören oder was auch immer uns unterscheidet.
Und das Wort Öko, also Ökologie, kommt zum Beispiel auch von griechischen Wort oikos und das heißt Haus. In der WILDEN KIRCHE finden wir also eine ökologische Spiritualität, die sich mit der Frage beschäftigt, was unser Platz in diesem gemeinsamen Haus sein soll. Wollen wir hier Mietnomaden sein, die dieses Haus ausplündern und zerstören? Oder wollen wir Hausmeister und Hausmeisterinnen sein, Gärtner und Gärtnerinnen, die dafür sorgen, dass alle gut leben können in diesem gemeinsamen Haus, in der WILDEN KIRCHE.

Lebe gut: Aber heißt »wild« nicht eigentlich so viel wie chaotisch, ungezähmt, unkontrolliert?

Jan Frerichs: Das denken viele, aber wenn Sie mal in die Natur schauen, geht es da doch in der Regel sehr geordnet zu, nach »Naturgesetzen« und in großen Kreisläufen. Wir vergessen in unserer zivilisierten Kultur gerne, dass wir immer noch ein Teil all dessen sind. Und im Grunde nur ein Wimpernschlag in der Erdgeschichte. So betrachtet ist auch die WILDE KIRCHE kein neues Phänomen und auch keine christliche Erfindung. Wir finden die WILDE KIRCHE zwar auch in der christlichen Tradition, zum Beispiel in der franziskanischen Bewegung, bei Hildegard von Bingen oder bei den Wüstenvätern, aber die WILDE KIRCHE hat es im Grunde immer schon gegeben. Ihre Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit. Auch in die vorchristliche Zeit. Dazu gehören auch die Menschen, die vor uns Hunderttausende von Jahren gelebt haben, mit und in der Schöpfung. Und die überlebt haben, sonst gäbe es uns nicht. Und auch wenn wir über alles »Steinzeitliche« gerne zivilisiert die Nase rümpfen: Etwas müssen diese Menschen ja richtig gemacht haben, sonst hätten sie nicht überlebt.

Lebe gut: Worum geht es dann in Ihrem Buch?

Jan Frerichs: Es geht ums Überleben. Heute wieder. Nicht nur das Überleben der Menschheit, sondern der ganzen Schöpfung, so wie sie sich entwickelt hat über vielen Hunderttausende und Millionen von Jahren. Diese komplexe Vielfalt ist unsere Lebensgrundlage und die ist bedroht. Insofern ist es Zeit, dass wir wieder zu einer Spiritualität finden, die uns nicht von der Welt und von der Schöpfung trennt, sondern die uns hilft, hier einen guten Platz zu finden. Was das Buch angeht: Zuerst einmal war es mir wichtig, einen Zugang zu dieser Schöpfungspiritualität zu schaffen, von der ich gesprochen habe. Und zwar einen persönlichen Zugang. Ich erzähle von meinem persönlichen Weg und wie ich die WILDE KIRCHE entdeckt habe. Wieder entdeckt habe. Dann lade ich ein, die eigene Erfahrung und Spiritualität zu reflektieren: Was ist mein Platz in der Welt? Wer bin ich und wer möchte ich sein? Und wer sind WIR als Gemeinschaft und wer wollen WIR sein als Menschheit? Wie könnte so eine ursprüngliche, schöpfungsorientierte Spiritualität heute aussehen. Mit welchen Gedanken und Vorstellungen müssen wir vielleicht auch aufräumen. Und schließlich gibt es eine Anleitung für eine Praxis der WILDEN KIRCHE. Und das heißt: Anleitung dafür, wie die WILDE KIRCHE und diese Spiritualität Raum bekommen kann, sprich: Wie sich Menschen zusammentun können, wie sie zusammenkommen können, miteinander ins Gespräch kommen und nach Antworten suchen - statt sich ihre jeweiligen Antworten um die Ohren zu hauen.
Und da geht es also letztlich nicht nur um irgendeinen spirituellen Ringelpietz mit Anfassen, sondern es geht um die gemeinsame Grundlage, die es braucht, um die Probleme zu lösen, die wir haben. So wie es die Menschen getan haben, die viele Hunderttausende von Jahren vor uns gelebt und überlebt haben.

Über den Autor

© Anne-Maria Apelt

Jan Frerichs

Jan Frerichs OFS ist Gründer und Leiter der »Franziskanischen Lebensschule«. Als Theologe begleitet er Menschen in geistlichen Auszeiten und Übergangsriten. Er ist ausgebildet in der Tradition der »School of Lost Borders« und geprägt von franziskanischer Spiritualität (Richard Rohr: Mens’ Rites of Passage). Nach fünf Jahren als Franziskanerbruder gehört er heute dem Dritten Orden der franziskanischen Familie an. Der frühere ZDF-Redakteur lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Bingen am Rhein.
www.barfuss-und-wild.de

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