November-Farben

Der November ist Anlass, über die Grenzen des Lebens nachzudenken, aber kein Grund, dass sich ein Grauschleier über die Seele legen muss, findet Andrea Schwarz. Ein Plädoyer für die Farben des Lebens, mitten im November.

Inspiration Natur Herbst

Leben ist Vielfalt

Leben ist vielfältig und bunt! Und alle Versuche, es einheitlich zu färben und zu uniformieren, werden dem Leben nicht gerecht. Diese Vielfalt können wir sehen und wahrnehmen, wenn wir die Augen aufmachen und um uns herumschauen: Da gibt es nicht nur eine Sorte von Bäumen, sondern ganz viele verschiedene. Und Blumen blühen nicht nur gelb, sondern rosa und blau und violett und rot, mal kräftig, mal pastellfarben. Und es gibt Kängurus und Giraffen, Pinguine und Blauwale, Adler und Rauhaardackel, Regenwürmer und Löwen. Und genau diese verrückte Vielfalt macht doch die Welt erst interessant und schön! Und das gilt auch für uns Menschen: Gott will uns nicht ordentlich auf 10 × 15 cm (oder welche Größe auch immer) zusammengefaltet, genormt, standardisiert – sondern als Unikat, als von Hand gemachtes Einzelstück! Sein Originalitätsstempel ist unser Fingerabdruck – der ist so einzigartig, dass er auf Pässen und Ausweisen zum persönlichen Identifikationsmerkmal geworden ist.

Was macht mich zu einem »Ich«?

Es sind die Grenzen, die mir ein Profil und eine Identität geben. Ohne Begrenzungen würde ich mich im Unendlichen verlieren. Grenzen erzeugen ein »innen« und ein »außen« und geben mir dadurch eine »Form«. Erst der oder das »Andere« macht mich zu einem »Ich«. Nur dadurch werde ich auch klarer, fassbarer, begreifbarer. So wie mich meine Haut von anderen Menschen trennt, mich begrenzt und damit auch »vereinsamt«, so ist sie doch gleichzeitig das Körperorgan, das mich den anderen wahrnehmen lässt. Erst meine Grenzen und Begrenzungen lassen Berührungen zu. Und nicht zuletzt brauche ich Grenzen auch, um mich zu schützen. Um Entwicklung und Wachstum möglich zu machen, muss ich immer wieder einmal meine Grenzen aufheben, überqueren, vielleicht sogar überschreiten: etwas ausprobieren, was ich noch nie getan habe; mich auf jemanden einlassen, der mir fremd ist; die verrückten Ideen endlich einmal tun.

Die eigenen Farben finden

Richard Rohr, ein Franziskaner aus den Vereinigten Staaten, hat einmal sinngemäß einen Rabbi zitiert: »Wenn man lange genug bei Gott rumhängt, färbt der Typ auch irgendwie ab!« − Heilige sind Menschen, die lange bei Gott »herumgehangen« haben und auf die Gott so abgefärbt hat, dass man seine Farben in ihnen erkennen kann. Die Farben Gottes? Im apokryphen Philippus-Evangelium, also einer Schrift, die von der Kirche nicht in den offiziellen Kanon der Bibel aufgenommen wurde, heißt es im Spruch 43: »Gott ist ein Färber.« Jeder Färber aber, der ein wenig auf sich hält, hat Freude an Farben und an der Buntheit – und färbt eben nicht nur in Einheitsschwarz oder Jeansblau. Für viele ist der November ein grauer und trister Monat, aber er fängt eigentlich sehr bunt an – nämlich mit dem Fest Allerheiligen.

Der Weg, den nur ich gehen kann

Der November beginnt mit einem Fest für alle Heiligen, und die sind wirklich sehr farbig, und ich glaube, da gibt es nichts, was es nicht gibt! Es beginnt mit den frühen Märtyrern, die für den Glauben mit ihrem Leben bezahlten. Asketische Mönche haben Kultur geschaffen, Franz von Assisi stieg aus der bürgerlichen Welt aus – und ein Johannes vom Kreuz wurde von seinen eigenen Mitbrüdern in den Kerker geworfen. Es gibt eine Teresa von Ávila, die sagt: »Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Fasten, dann Fasten!« – und eine Madeleine Delbrêl, von der man immer noch einige Aschenbecher aufhebt … Es gibt nicht die Heiligen, sondern das ist eine ausgesprochen bunte Mischung! Übrigens: Heilige, das sind nicht nur solche, die offiziell von der Kirche anerkannt sind, sondern das kann jede und jeder sein …

Heilig zu sein heißt nicht, perfekt zu sein, sondern die zu werden, die ich von Gott her sein soll … das heißt auch, meinen Weg zu finden und zu gehen, den Weg, den nur ich gehen kann.

Über die Grenze hinaus

Vielleicht könnte die Einladung heißen: mich mit dem Tod vertraut machen. Ihn beim Namen nennen, damit er keine Macht mehr über mich hat, ihn in mein Leben hereinholen, damit er mein Leben kostbar macht. Und dann brauche ich auch keine Angst mehr zu haben … denn der Tod ist eigentlich eine Ent-Grenzung: Er nimmt die Grenzen meines Lebens weg – und entführt mich in die grenzenlose Weite Gottes.

Ja, der Tod ist eine Grenze in unserem Leben. Und diejenigen, die sterben, überschreiten sie. Aber hinter einer Grenze hört das Land ja nicht auf, es geht nur anders weiter. Eventuell spricht man auf der anderen Seite der Grenze eine andere Sprache, vielleicht gibt es dort fremde Sitten und Gebräuche, möglicherweise zahlt man dort in einer unbekannten Währung – aber eine Grenze ist nicht das Ende, sondern nur ein Übergang.


Die Texte sind zusammengestellt aus Andrea Schwarz, Gib dem Leben eine Chance. 365 Tage im Jahr, Patmos Verlag 2025


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