»Loslassen ist ein Aufbruch zu neuen Ufern«

Unsere Autorin Irmtraud Tarr über die positive Kraft des Loslassens

Achtsamkeit Inspiration Zuversicht

Ich wurde nicht gefragt, ob ich loslassen will. Ich wurde dazu gezwungen. Dieses Buch wurde mir im wahrsten Sinn des Wortes entrissen. Auf einer Bahnreise wurde es zur Beute von zwei jungen Männern, die mir meinen Computer und damit sämtliche Daten entrissen. Solche Erschütterungen lassen keine Wahl. Man muss ein neues Lebenskapitel aufschlagen oder sogar ein ganz neues Buch. Ich habe mich für ein neues Buch entschieden. Neu anzufangen, auch wenn es bis in die Knochen schmerzt und jedem Kalkül widerspricht, dazu braucht es einen langen Atem und das, was man auch »Resilienz« oder Frustrationstoleranz nennt. Wie schmerzhaft, aber auch wie stärkend und befreiend Loslassen sein kann, ist vergleichbar mit der Erfahrung einer Gratwanderung.

Man hat die Wahl, ob man in den Sümpfen von Wut und Ressentiment versinkt oder ob man auf das Plateau wachsamer Annahme gelangt. Manchmal muss man auch bereit sein, ein zu hochgestecktes Ziel zu lassen.

»Loslassen« begleitet unser ganzes Leben

Loslassen ist ein Lebensthema. Mit jedem Atemzug müssen wir etwas loslassen, mit jedem Tag müssen wir etwas verabschieden und uns bereit machen für Neues. Die erste Lektion erhalten wir als Kinder, wenn wir laufen lernen und den Mut finden, die Hand der Mutter loszulassen. Nicht nur das Kind, auch die Eltern sind gefragt: »Traue ich es ihm zu? Was mute ich mir selbst zu?« Schon früh merkt man: Wenn man loslässt, erlebt man etwas Neues – ein Abenteuer, eine Überraschung, einen Absturz oder eben Neuland.

Da man das Neue nicht kennt, können Ängste und Unsicherheiten entstehen. Es ist für jeden schwierig, loszulassen. Doch unser Leben ist ein dauerndes Loslassen von Menschen, Orten, Gewohnheiten und Zeiten – nichts bleibt für immer. Nicht nur bei den großen Lebensaufgaben, auch bei den kleinen Alltagsdingen fällt es uns schwer, loszulassen. Überwältigt von einer Unmenge an Angeboten, Möglichkeiten und Aufgaben, überfordert von Terminen, gehetzt von Verpflichtungen, merken wir es doch, dass wir trotz aller Intensität und Schnelligkeit nicht mehr von der Welt bekommen. Gerade da, wo unendlich viel verfügbar und vorstellbar ist, braucht es mehr denn je die Entscheidung zum Loslassen, zur Absage, zum Aufhören, Abbrechen oder Aussteigen, denn der »Run auf die Offerten« ist nicht zu gewinnen.

Öfter mal einen Neuanfang wagen

Eigentlich ist das widersprüchlich in einer Gesellschaft der Nonstop-Beschleunigten und Dauer-Mobilisierten, in der die Augenblickszwänge zu schnellen Anfängen und noch schnelleren Enden führen. Unglaublich viel wird angefangen und möglichst schnell wieder fallen gelassen. Dennoch tun sich Menschen in ihrem persönlichen Leben schwer, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu wagen. Im Vergleich zum Anfangen, Beharren, Kämpfen, Dranbleiben und Gewinnen haftet dem Loslassen etwas Negatives an. Man wird an Abschiednehmen erinnert, an Aufgeben, Scheitern, Verzicht oder Verlust. Warum sollte Loslassen eine Tugend sein? Haben wir nicht jahrelang versucht, den alten Erziehungsidealen, die uns Ausdauer, Durchhaltekraft und Beharrlichkeit als Schlüssel zu den Toren der Schatzkammer des Erfolges vermittelten, gerecht zu werden? Diese Seite des Lehrplans setzt alles auf die Willenskraft und die Beharrlichkeit. Eine andere Seite ist das Loslassen. Loslassen, das ist kein simpler Reflex auf die Bremse, sondern vielmehr ein Abstandnehmen, Innehalten oder Freiwerden für Neues. Jedes Loslassen ist also ein Aufbruch zu neuen Ufern.

Aber dies bedeutet immer auch ein Wagnis und sogar ein doppeltes: das eigene facettenreiche Wechselspiel von Tun und Lassen, von Befreiung und Begrenzung, von Aktivität und Ruhe intakt zu halten und zu verteidigen, obwohl es von außen oft bedrängt und infrage gestellt wird. Es gilt, Gelassenheit und Vertrauen zu entwickeln zwischen dem Willen zum Festhalten und der Bereitschaft zum Lassen. Gerade in Lebensphasen des Umbruchs und des Wandels liegen im Loslassen bedeutsame Möglichkeiten der Korrektur, der Ablösung alter, überholter Muster und destruktiver Vorstellungen. Indem wir Nein zu ihnen sagen, entscheiden wir uns gleichzeitig für ein Ja zu unserer eigenen inneren Wahrheit. Altes muss losgelassen werden, damit Platz für Neues entsteht.

In kleinen Schritten lernen loszulassen

Loslassen kann eine stilvolle Angelegenheit sein, wenn wir rechtzeitig merken, wann es an der Zeit ist, eine unerfreuliche Beziehung zu beenden, einen Schlussstrich unter ein verlustreiches Objekt zu ziehen, eine Fehlentscheidung zu korrigieren oder sich von überfordernden Aufgaben zu lösen. Wir können uns ermutigen und anregen lassen, hinzuschauen, wo wir stecken geblieben sind, wo wir eine Sache abrunden können, wo wir weitergehen müssen und unseren Lebensschritten dadurch eine gute Gestalt verleihen.

Die Angst vor dem Loslassen verlieren wir erst, wenn wir im Alltag anfangen, kleine Abschiede umzusetzen und als Chancen für Neues kennenzulernen. Je mehr es gelingt, sich dem zu öffnen, was ist und was ansteht, desto besser sind wir auch für die großen Lebensabschiede ausgerüstet. Vielleicht erkennen wir am Ende, dass die einzigen Dinge, die wir verloren haben, diejenigen waren, die wir versuchten festzuhalten.

Vorwort aus »Loslassen – die Kunst, die vieles leichter macht«
von Irmtraud Tarr

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