Leben mit Verlusten

Wie aus dem Gefühl »Von allen guten Geistern verlassen« die Haltung »Es geht weiter – aber anders« werden kann. Einblicke in das neue Buch von Dr. Irmtraud Tarr

Ratgeber Ermutigung Lebenshilfe

Dr. Irmtraud Tarr ist Psychotherapeutin, Universitätsprofessorin und international tätige Konzertorganistin. Sie ist Autorin von über 30 Fachbüchern und Ratgebern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Ihr kürzlich erschienenes Buch »Was rettet« will Menschen in Verlustsituationen Wege in ein neues Leben weisen. Es entstand vor dem Hintergrund schwerster Verlusterfahrungen der Autorin selbst und ist durch seine Tiefe und Weite doch so viel mehr als ein Erfahrungsbericht.

Zu Beginn des Buches schreibt sie unter der Überschrift In jeder Krise wohnt ein Spielraum:

»So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Es sollte immer weiter so gehen mit meinem Mann, den Freunden, der Familie, den Gästen, der Musik und den immer neuen Projekten. Aber plötzlich ging ein Riss durch mein Leben. Die emotionale Fallhöhe hätte nicht größer sein können. Meine fünf nächsten Menschen starben innerhalb von drei Monaten: meine Mutter, meine drei engsten Freunde und mein Mann. Durchgerüttelt und allein stand ich da, und hätte es als gerecht empfunden, wenn die Erde sich auftut und mich verschlingt.
Zum Glück konnte ich zunächst nur einen gewissen Grad des Unglücks fassen. Die Zukunft rückte in weite Ferne und die Pandemie, die Anfang 2020 alle Länder überrollte, war nahe. Ich erlebte sowohl innen als auch außen eine Zeit der Fragilität und der abrupten Veränderungen. Ich wurde Zeugin eines Umbruchs, der normalerweise nur in Zeitlupe zu beobachten ist. Was ich für den sicheren Grund gehalten hatte, war sowohl innen als auch außen weggebrochen.

Je älter wir werden, desto weniger sind wir gefeit gegen unerwartete, kritische Lebensereignisse, Schicksalsschläge, Verluste, Krankheiten, Abschiede. Selbst das beschaulichste Dasein wird mitunter heftig durchgerüttelt. Krisen, Krankheiten, Katastrophen, die uns das Leben zumuten, unterbrechen den gewohnten Tagesablauf. Überraschende Wendungen brechen blitzartig über uns herein.
Manchmal schleichen sie sich unspektakulär an, in Gestalt chronischer Schmerzen, Lustlosigkeit oder schwelender Beziehungskrisen, die unser Leben grundlegend verändern. Gemeinsam ist ihnen, dass sie immer mit Verlusten einhergehen. Immer verliert man etwas: den Partner, die Eltern, den Freundeskreis, die Gesundheit, die finanziellen Grundlagen, die sozialen Bezüge. Man muss sich neu verorten in seinem Rollenverständnis, im Beziehungsgeflecht und in gesellschaftlichen Bezügen. Und in der Art und Weise, wie man sich selbst bisher wahrgenommen und erlebt hat. Man muss sich selbst neu definieren und finden im Verhältnis zu sich selbst und zu anderen.«

Die Autorin ist Psychotherapeutin, sie hat tiefe Einsicht in die menschliche Psyche, auch in Extremsituationen. Sie ist außerdem Konzertorganistin und hat dadurch einen so intensiven Zugang zur Musik wie ihn die meisten von uns nicht haben dürften. Doch was sie als hilfreich auf dem Weg durch die Trauer schildert, ist keineswegs »abgehoben« oder unzugänglich für Menschen mit anderen Biografien.

So benennt Irmtraud Tarr vier »Säulen«, auf die sich ein neues Leben nach dem Verlust des gewohnten, liebgewordenen alten Lebens gründen kann. Ganz elementar ist dabei etwa die Säule der Freundschaft:

„Ich kann es nur jedem ans Herz legen: Sich jede Woche, am besten alle paar Tage, mit Freunden zu treffen und sich etwas vorzunehmen. Etwas Unbekanntes, Überraschendes, etwas Herzerwärmendes, Spannendes, etwas Herausforderndes, Pfiffiges, Beglückendes. Es kostet zwar Willenskraft, sich aufzuraffen und nach draußen zu gehen, aber es gibt auch neue Lebenskräftigung.In derVerlassenheit verändern sich nämlich Zeiten, Rhythmen und Rituale. Umso wichtiger ist es, dass man sich diesem Sog der Schwerkraft, dem Mangel an Gewohnheiten, dem Wegfallen von Gemeinsamkeiten, Abläufen und Regeln entgegensetzt. Man sollte es der Schwerkraft nicht zu leicht machen. Wenn nichts mehr nach einem ruft, man nur noch die eigene Stimme hört, die Wohnung still wird, braucht man geteilte Wirklichkeiten und Bewältigungsstrategien, um sich von dieser aschfahlen Tristesse zu befreien. Um aus dem Gefängnis der chaotischen Tagesformen, Launen und Konturlosigkeiten zu entkommen, braucht man neue Gewohnheiten, Zugehörigkeiten, Verbindlichkeiten. Der Fokus ändert sich, wenn zur Selbstsorge die Sorge um die Freunde und die Familie hinzukommt.
Eine Freundin hat mir gezeigt, wie Bilder der Hoffnung Entlastung bringen können. Sie meinte: »Gott hat eine große Erfindungsgabe für Notlagen« und schenkte mir ein Bild von zwei Bäumen, die eng nebeneinander wuchsen. Durch einen Sturm wurde der eine Baum weggebrochen und plötzlich hatte der andere Baum viel Platz. An der Seite, wo der Baum stand, entwickelte er darauf hin große Äste und wurde zu einem prächtigen Baum, der sich nach beiden Seiten hin entwickelte. Ein schönes Bild, das zeigt, dass aus dem Weggebrochenen neues Wachstum entstehen kann, wenn man sich den Blick dafür freihält, dass neues Leben möglich ist, das aus innerer Verbundenheit wachsen darf.«

Doch nicht nur Freundschaft kann uns wortwörtlich retten. Auch Rituale, Fantasie und Kunst können in jenen Zeiten stete Begleiterinnen sein, um mit Verlusten gut zu leben. Dr. Irmtraud Tarr zeigt uns, worauf es ankommt und ebnet uns Hoffnungs- und Spielräume für die Zeit der Trauer.

Die Ausschnitte sind aus dem Buch

Irmtraud Tarr
Was rettet
Mit Verlusten leben

Wer Verluste verkraften muss, braucht Kraftquellen, die jederzeit verfügbar sind. Die renommierte Psychotherapeutin Irmtraud Tarr konzentriert sich in ihrem neuen Buch auf den Wert solcher Rituale und Gewohnheiten, die in schweren Zeiten unversehrt bleiben. Es sind pragmatische, urmenschliche Überlebensstrategien, die in Schmerz und Trauer stärken und einen Hoffnungsraum bilden. Eingewebt hat Irmtraud Tarr Berichte über ihre eigenen Verlusterfahrungen und antwortet so auf die Frage, wie man sich erneut auf das Leben einlassen kann.