Kleindenkmale – Zeugen der Geschichte am Wegesrand entdecken

Ein Interview mit der Kulturwissenschaftlerin und Autorin Martina Blaschka des baden-württembergischen Landesamts für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart

Interview Gesellschaft Verantwortung Wertschätzung

Die Volkskundlerin und Kunsthistorikerin Martina Blaschka betreut seit vielen Jahren ein Projekt des Landesamts für Denkmalpflege, das sich dem Erhalt und der Dokumentation von Kleindenkmalen in Baden-Württemberg widmet. Das Projekt geht auf die Initiative der großen Verbände Schwäbischer Heimatbund, Schwäbischer Albverein, Schwarzwaldverein, Badische Heimat und Gesellschaft zur Erhaltung und Erforschung der Kleindenkmale zurück. Diese Arbeit begeistert sie bis heute und ist nur durch die Mitarbeit vieler Ehrenamtlicher vor Ort möglich. Zum 20-jährigen Jubiläum entstand auf ihre Initiative hin nun ein reich bebilderter Band, der den Einsatz der Projektgruppen, aber auch unzähliger Interessierter in vielen Gemeinden des Landes Baden-Württemberg beschreibt und würdigt. Wir haben mit Martina Blaschka über ihre Arbeit in der faszinierenden Welt der Kleindenkmale gesprochen.
 

Lebe gut: Frau Blaschka, wohl jeder weiß, was ein Denkmal ist und hat Entsprechendes vor Augen. Was aber darf man sich unter einem Kleindenkmal vorstellen?
Martina Blaschka: Kleindenkmale sind kleine, freistehende Objekte, nicht begehbar und von Menschenhand geschaffen. Zudem sind sie Zeugnisse der Geschichte und bestehen aus einem dauerhaften Material, wie etwa Metall, Holz, Stein oder auch bestimmten Kunststoffen. Kleindenkmale sind einerseits abzugrenzen von Baudenkmalen, wie Schlössern, Burgen oder auch Fachwerkhäusern, und andererseits von archäologischen Denkmalen. Es gibt aber auch Ausnahmen: So werden kleine Hofkapellen zu den Kleindenkmal gezählt, obwohl sie begehbar sind, oder etwa Inschriften an Häusern, obwohl die ja nicht freistehend sind.
Zudem gibt es ganz verschiedene Arten von Kleindenkmalen. Zu dem rechtlichen Bereich gehören zum Beispiel Grenzsteine oder Sühnekreuze, aus dem Bereich Verkehr und Wirtschaft Ruhebänke oder kleine Brücken. Außerdem gibt es aus dem Bereich Verkehr unter anderem alte Wegweiser oder Chausseesteine sowie z.B. in der Landwirtschaft Brunnen, die als Kleindenkmale definiert werden. Zu einem großen Teil stammen Kleindenkmale aus den Bereichen Glaube und Religion, wie etwa Wegkreuze, und aus dem Bereich Erinnerungskultur, etwa Denkmale, die an Verkehrsunfälle erinnern. Eher unerwartet zählen kleine freistehende Gebäude, wie etwa Wasserreservoire oder Wasserhochbehälter, und unselbständigen Objekte wie etwa Hochwassermarken an Häusern, ebenso zur Kategorie Kleindenkmal.
 

Lebe gut: Viele der Kleindenkmale sind 100 Jahre alt und älter. Was bedeuten Sie heute noch? Hat sich unsere Welt mittlerweile nicht zu sehr verändert? Braucht man sie überhaupt noch?

Martina Blaschka: In der heutigen Welt, in der vieles digital und virtuell stattfindet, sind die Kleindenkmale wertvolle Zeitzeugen, die wir besuchen und somit ein Stück Geschichte wortwörtlich begreifen können. Es ist doch ein großer Unterschied, ob wir etwas auf einem Bildschirm sehen oder etwas aufsuchen (müssen), wie das bei Kleindenkmalen oft der Fall ist. Zum Beispiel Sühnekreuze sind oft im Wald verborgen und schon der Weg dorthin ist etwas Besonderes. Sühnekreuze sind zusammen mit Grenzsteinen die ältesten Kleindenkmale und stammen meist aus dem 15. oder 16. Jahrhundert.
Wenn wir zum Beispiel Kindern klarmachen möchten, wo eine Grenze verläuft, ist das digital nur schwer möglich. An einem Grenzstein hingegen kann man das sehr gut zeigen. Man kann von einem Grenzstein zum nächsten gehen und sagen: »Hier verläuft die Grenze!« Außerdem sind die Grenzsteine nicht nur sehr alt, sondern auch mit Wappen, Ortszeichen oder anderen herrschaftlichen Zeichen versehen. So kann man nicht nur optisch, sondern auch haptisch Geschichte erfahren.
Oder nehmen wir Denkmale, die an Verkehrsunfälle erinnern. Sie sind eine Konstante von damals bis heute. Ein gutes Beispiel für die Zeitlosigkeit dieser Kleindenkmale ist das Demmler-Denkmal in Stuttgart an der Mahdentalstraße, in der Nähe des Schattenrings. Es ist kürzlich 400 Jahre alt geworden und steht für einen Verkehrsunfall, bei dem der Sohn einer Calwer Tuchmacherfamilie ums Leben kam. Der Vater war mit dem 13-Jährigen unterwegs, als sich der tödliche Unfall ereignete. Weil er die Aufstellung des Denkmals beantragen musste, ist seine Geschichte gut dokumentiert.

Lebe gut: Spannend, welch tragische und persönliche Geschichte sich hinter diesem zunächst »unscheinbaren« Kleindenkmal offenbart. Gibt es neben den persönlichen auch noch andere Gründe für das Aufstellen solcher zunächst »unscheinbaren« Denkmale?

Martina Blaschka: Immer wieder finden wir auch Steine, die Geflüchtete und Vertriebene in den 1950er Jahren aufgestellt haben. In der Nähe meines Wohnortes komme ich oft an einem solchen Stein vorbei. Er liegt in einer Art kleinem Gärtchen und trägt die schlichte Inschrift »1946. Heimat verloren – Heimat gefunden«. Man kann Geschichte und Geschichten festmachen an diesem Stein.
Oder denken Sie an die vielen alten Wegweiser. Am Anfang waren das sogenannte Stundensteine für Postkutschen. Da stand dann zum Beispiel »16 Stunden bis nach Freudenstadt«. Oder es gab Wegweiser, auf denen stand, wo ein Weg oder eine Ortschaft liegt. Es gab ja keine Ortseingangsschilder wie heute. Des Weiteren gibt es sogenannte „Gruhen“ oder Ruhebänke. Das sind hohe Steinbänke zum Abstellen der auf dem Rücken oder dem Kopf getragenen Lasten. Sie zeugen davon, wo Marktwege verliefen und dokumentieren Wirtschaftsleben.

Lebe gut: Bei den genannten Kleindenkmalen sind die Zeitgenossen längst verstorben. Gibt es auch heute noch Menschen, die sich darum kümmern? Wie kann man diese »steinernen Zeitzeugen« erhalten?
Martina Blaschka: Für die Kleindenkmale wäre es eigentlich am besten, man würde in ihrer Umgebung alles so belassen, wie es ist. Das ist natürlich nicht oft möglich. Allein dem Straßenbau stehen die Kleindenkmale oft im Weg. Nun wird wegen eines Sühnekreuzes sicher kein Verlauf eines Autobahnbaus verändert. Aber man kann die Kleindenkmale kontrolliert versetzen. Die Idee ist, sie möglichst am Standort zu erhalten; wenn das nicht möglich ist, sie ungefähr am Ort zu belassen und damit Geschichte weiterhin nachvollziehbar zu erhalten. Dazu ist es wichtig, Kleindenkmale zu dokumentieren, ihren Ort sowie den Zustand, in dem man sie vorgefunden hat. Die Denkmalpflege kann jedoch nicht überall präsent sein, deshalb ist es entscheidend, dass es Menschen gibt, die ein Auge darauf haben.
Die Idee unseres Projektes zum Erhalt der Kleindenkmale ist, dass die Menschen diese kleinen Objekte wertschätzen, ihre Geschichte oder Geschichten kennen und vor Ort weitertradieren, und dass sie Schäden bemerken. Das Beheben der Schäden geschieht bei Kulturdenkmalen in Absprache mit der Denkmalpflege. Wichtig ist es, die Kleindenkmale im Blick zu haben. Und das tun die Leute!
Ein Beispiel: als ich kürzlich im Kreis Konstanz unterwegs war, um Kleindenkmale zu fotografieren, erregte ich mit meinem Stuttgarter Kennzeichen das Misstrauen einer Dorfbewohnerin. Sie fragte mich prompt, was ich an dem Objekt zu schaffen habe. Es wurde dann ein gutes, freundliches Gespräch, aber ich bin sicher, wenn dieses Kleindenkmal hinterher gefehlt hätte, hätte die Dame meine Autonummer sicherlich weitergegeben. Das ist das Beste, was den Kleindenkmalen passieren kann: Menschen vor Ort, die aufmerksam sind und sich kümmern.


Lebe gut: Wie gewinnen Sie Menschen, die Sie beim Erhalt der Kleindenkmale unterstützen? Wie viele davon gibt es in Baden-Württemberg?
Martina Blaschka: Das sind zwei verschiedene Themen. Das Projekt ist ja zunächst einmal die Erfassung und Dokumentation der Kleindenkmale. Daraus folgt dann, dass man sie erhält. Das Tolle ist, dass es uns oft gelingt, viele Leute zu begeistern, etwa indem man einen Vortrag hält oder indem man die Menschen vor Ort selbst schildern lässt, was sie mit einem Kleindenkmal verbindet. Viele Menschen engagieren sich unter anderem in Geschichts- oder Heimatvereinen und kennen sich sehr gut aus. Das ist eine fantastische Ressource für unsere Arbeit. Wiederum andere sind neu an einen Ort gezogen und lernen diesen nun mit Hilfe der Kleindenkmale kennen. Sie gehen dann vielleicht zum Recherchieren ins Archiv oder befragen die Leute vor Ort zu den Kleindenkmalen.

Im Rahmen des großen landesweiten Projekts arbeiten wir meist mit den Kreis- und Stadtarchiven und den Vereinen vor Ort zusammen. Wir bekommen Unterstützung von den Landkreisen, machen meist eine große Eröffnungsveranstaltung, auf der wir informieren und nach Mithelfenden suchen. Da kommen in einem Kreis schon mal 100 bis 150 Leute zusammen, die dann aktiv mitwirken! Andere Beteiligte, die vielleicht Fotos machen oder Geschichten erzählen, werden oft gar nicht gezählt. Offiziell haben und hatten wir im Lauf der letzten 20 Jahre annähernd 3000 aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber ich vermute, in Wirklichkeit waren es noch viel mehr.

Lebe gut: Welche Erlebnisse mit Ihrer Arbeit haben Sie am meisten bereichert, beeindruckt oder erstaunt?

Martina Blaschka: Es ist sehr schwierig, da einzelne Ereignisse herauszugreifen. Was mich jedes Mal wieder erstaunt ist, wie viele Menschen zu unseren Informationsabenden kommen. Wenn bei einer solchen Veranstaltung 100 Leute kommen, die einfach bereit sind, sich die Sache einmal anzuhören und die sich dann Zeit nehmen, um Kleindenkmale zu erfassen, das ist sehr beeindruckend. Wissen Sie, ein Kleindenkmal zu erfassen ist eine recht aufwändige Angelegenheit. Ein Kleindenkmal hat häufig keine Adresse, es steht zum Beispiel im Wald, man muss es erst einmal finden.
Faszinierend ist aber auch, wenn die Umgebung des Kleindenkmals liebevoll gepflegt ist. Einmal hatte ich einen Pressetermin bei einem Wegkreuz im Landkreis Sigmaringen. Plötzlich kam eine ältere Frau mit einer Gießkanne dazu, die sich über den Auflauf wunderte. Sie selbst sei jeden Morgen hier, um die Blumen um das Wegkreuz zu gießen, sagte sie. Ich weiß nicht, ob solche Formen der Fürsorge allmählich aussterben, aber ich hoffe nicht. Mich berührt es daher auch, wenn Menschen mir Bilder schicken von Kleindenkmalen, die verschwunden sind. Das ist schade, und da kann leider auch die Denkmalpflege nichts mehr tun. Aber es zeigt, dass den Menschen die Kleindenkmale ihrer Heimat etwas bedeuten.

Lebe gut: Werden auch heute noch Kleindenkmale im öffentlichen Raum aufgestellt und wenn ja, wie unterscheiden sie sich von denen früherer Zeiten?
Martina Blaschka: Man hat manchmal den Eindruck, dass heutzutage unter anderem für das Aufstellen von Kleindenkmalen für Verkehrstote bewusst der öffentliche Raum gesucht wird. Dabei geht es um den Ort des Geschehens. Es gibt hier zwar meist ein Grab auf einem Friedhof, aber das kann man nicht persönlich gestalten, etwa indem man den Sturzhelm des Verunglückten dort ablegt. Häufig brennt daneben am Straßenrand auch ein ewiges Licht, und der Unfallort insgesamt ist ein bisschen wie ein kleines Grab gestaltet, so dass es zuweilen nachts ein wenig gespenstisch wirken kann.
Aber auch bei großen Katastrophen, wie etwa dem Zusammenstoß zweier Flugzeuge bei Überlingen im Jahr 2002, bei dem 71 Menschen, meist Schulkinder, ums Leben kamen, gibt es das Bedürfnis, in sichtbarer Weise an das schreckliche Ereignis und die Opfer zu erinnern. Im Fall von Überlingen geschah dies durch die Künstlerin Andrea Zaumseil in Form einer »Zerrissenen Perlenkette«. Das sind mehrere große Edelstahlkugeln, teils miteinander verbunden, an der Gedenkstätte Überlingen-Brachenreuthe. Oder denken Sie an Winnenden, wo zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs das Denkmal »Der gebrochene Ring« des Bildhauers Martin Schöneich errichtet wurde. Ich denke, man versucht heute schon, neue Ausdrucksformen für solche Ereignisse zu finden.
Auch die neu erwachte Faszination des Pilgerns ruft neue Kleindenkmale hervor, indem entlang der Pilgerwege tatsächlich auch neue Wegkreuze aufgestellt werden. Etwas skurril ist, dass die Flurbereinigung, die bei uns zum Verschwinden vieler Kleindenkmale geführt hat, sich andererseits selbst immer wieder ein Kleindenkmal gesetzt hat, etwa in Form eines Gedenksteins, auf dem dann steht »Zum Abschluss der Flurbereinigung in …«.
 

Lebe gut: Inwiefern sehen Sie auch heute noch einen Nutzen im Erhalt von Kleindenkmalen?
Martina Blaschka: Kleindenkmale sind nicht nur Zeugen der Vergangenheit, sondern sie können auch Denkanstoß und Mahnung für die Zukunft sein. Wenn heute in einer Gemeinde ein martialisch anmutendes Gefallenendenkmal steht, mag uns das auch daran erinnern, dass diese Gemeinde vermutlich gar kein Mitspracherecht hatte, wie das Denkmal auszusehen hat, weil ein rigides Regime solche Entscheidungen getroffen hat. Dann können wir uns fragen, was wir tun können, damit so etwas in unserem Land nicht wieder geschieht.
Oder ein ganz anderer Bereich: die Wasserversorgung. Wenn Sie sich anschauen, wie prächtig die ersten Wasserreservoire geschmückt waren! Darin drückte sich die Wertschätzung für eine bessere, zuverlässige Wasserversorgung bis zum Wasserhahn aus. Heute sind das nur noch schlichte Gebäude aus Beton. Dabei wird das Thema Wasser und Wasserknappheit mit dem Klimawandel zunehmend relevant. Ich bin also überzeugt, dass die Beschäftigung mit Kleindenkmalen keineswegs nur eine rückwärtsgewandte Betrachtung ist, sondern dass wir auch im Nachdenken über unsere Gegenwart und Zukunft dabei viel gewinnen können.

Das Buch zum Interview:

Martina Blaschka (Hg.) / Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (Hg.)
KleinDENKMALE Baden-Württemberg
20 Jahre erfassen und dokumentieren im Ehrenamt. Arbeitsheft zum 20-jährigen Bestehen des Kleindenkmalprojekts

Keine Kulturlandschaft ohne Kleindenkmale. Seit 2001 werden diese vielgestaltigen Objekte in Baden-Württemberg von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfasst. Den Anstoß zu dem Projekt, das heute fest in der Landesdenkmalpflege verankert ist, gaben die großen Heimatvereine.

In dem Band spannt sich der Bogen von der Genese des erfolgreichen Projekts über die Frage des Denkmalwerts der Objekte und die Möglichkeiten zu ihrer Restaurierung bis zu neuen technischen Methoden der Kleindenkmalerfassung. Auch die Kleindenkmale selbst kommen nicht zu kurz: In reich bebilderten Beiträgen erzählen zahlreiche Autorinnen und Autoren von Gruhen, Grenzsteinen und Wegweisern, Bildstöcken, Wegkreuzen und vielem mehr – ein Blick in die einzigartige Welt der Kleindenkmale in Baden-Württemberg.

 

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