Das Wissen des Herzens

Die Jung’sche Analytikerin und Meditationslehrerin Brigitte Dorst über Mitgefühl, Herzensbildung und zeitgemäße Spiritualität.

Inspiration Achtsamkeit Resilienz

Was ist mit »Wissen des Herzens« gemeint, einem Ausdruck von C. G. Jung?
Was verbirgt sich hinter Jungs Satz, der vollständig lautet: »Denn Gelehrsamkeit allein genügt nicht; es gibt ein Wissen des Herzens, das tiefere Aufschlüsse gibt.« [1]

Das Herz als universales Symbol

Das Herz ist das universale Symbol für das, was den Menschen zum Menschen macht. Wie alle archetypischen Symbole umfasst das Herz ein nicht auszuschöpfendes Bedeutungsspektrum, bei dem Körper, Geist und Seele, Gefühl und Erkenntnis, Handeln und Weisheit, Liebesfähigkeit und Leidenschaft anklingen – und auch die negativen Seiten menschlicher Bosheit und des Bösen.

Schon in der Kultur des Alten Ägypten werden Seele und Herz zusammengedacht. Im ägyptischen Totenkult ist das Herz das einzige Organ, das wieder in das Innere des mumifizierten Körpers zurückgelegt wird. Beim Totengericht wird es gewogen, und sein Gewicht entscheidet über den weiteren Weg ins Jenseits. Es muss leicht und frei von allem Bösen sein.

Das Herz ist auch das entscheidende Erkenntnisorgan und hat seine eigene Logik. Berühmt ist der Ausspruch des französischen Philosophen Blaise Pascal in seinen Pensées: »Es gibt eine Vernunft des Herzens, die der Verstand nicht kennt. Man erfährt es bei tausend Dingen.« [2] Und weiter: »Wir erkennen die Wahrheit nicht allein mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen.« [3]

Es ist das unruhige Herz in uns, das uns in einer von globalen Krisen zunehmend bedrohten Welt nach Sinn und Orientierung suchen lässt, das sich angesichts der Rätsel, die das Leben aufgibt, mit dem Bekannten und mit Vernunftgründen nicht zufrieden gibt und uns nach Erkenntnis und Weisheit suchen lässt.

Was ist Spiritualität?

»Spiritualität« verweist in seinem lateinischen Wortstamm spiritus auf »Geist«. Spirituell zu sein, also von Geist bzw. der ruach erfüllt zu sein, heißt: lebendig zu sein. Das hebräische Wortruach bedeutet Atem, Wind, Energie und Leben. Spirituell zu sein heißt, erfüllt zu sein von dem einen Geist, der Lebensenergie, als Mysterium des Seins.

Das Kennzeichnende einer Spiritualität des 21. Jahrhunderts ist das Transkonfessionelle, Universale. Die Globalisierung bewirkt, dass östliche und westliche Formen von Spiritualität sich weltweit im Dialog und Austausch befinden und dass kreativ neue Formen von spiritueller Praxis entwickelt werden. Ein heutiges Verständnis von Spiritualität sieht die Vielzahl spiritueller Wege als Wege zum selben Ziel, in ihrer Essenz nicht verschieden, unabhängig davon, ob sie personale oder apersonale Bilder eines göttlichen Urgrundes, der Leere, des Absoluten, des Göttlichen verwenden, ob sie sich als Liebesmystik verstehen oder als Bewusstseinsschulung.

Aus Sicht einer globalen, transkonfessionellen Spiritualität geht es um die Erkenntnis, dass alles durchdrungen ist von der EINEN Urwirklichkeit. Auf der Ebene des personalen Bewusstseins gibt es ein Ich, Du, Wir. Auf der Ebene der mystischen Erfahrung dagegen ist Nondualität, Unio mystica, die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit.

Verbundenheit und interbeing

Ein zeitgemäßes Verständnis von Spiritualität fordert eine Weltanschauung und eine Lebensweise, die geprägt sind von Mitmenschlichkeit, Bewusstheit, Achtsamkeit und Offenheit für Erfahrungen in Tiefendimensionen, die über das Alltagsbewusstsein hinausgehen. Es geht um die Abkehr von rücksichtsloser Ausbeutung hin zur Entwicklung einer bewahrenden Nachhaltigkeit und Verbundenheit aller Bewohner:innen der Erde und ein entsprechend verantwortliches Leben. Verbundenheit ist ein zentrales Merkmal einer globalen, transkonfessionellen Spiritualität – Verbundenheit mit etwas Transzendentem, dem Urgrund des Seins, aber auch mit der Natur, mit den Mitmenschen und Mitlebewesen.

Spiritualität in diesem Sinne führt in ein Bewusstsein der Verbundenheit mit allem, was existiert, der Vielzahl der Mitlebewesen. Ökologie, Naturschutz, Tierschutz sind heutzutage wichtiger Teil eines spirituellen Bewusstseins, auch im Protest gegen weitere Naturzerstörung und Raubbau an den Ressourcen der Erde. Viele Aktionen zu diesen Inhalten sind gebündelt unter dem Leitmotiv spiritual activism. [4]

Thich Nhat Hanh, der im Januar 2022 verstorbene, weltweit wirkende Zen-Meister, hat das Wort »Interbeing« [5] geprägt. Sein ist nur möglich als ein »In-Beziehung-Sein« und mit einer Lebenshaltung, die von Mitgefühl und Achtsamkeit als zentralen Werten bestimmt ist.

Mitgefühl als Herzensqualität

Spiritualität ist vor allem ein Prozess der Herzenserweiterung. Es geht darum, Menschlichkeit in Form von Mitgefühl und Liebesfähigkeit zu entfalten. Daher ist auch die Essenz aller östlichen und westlichen spirituellen Traditionen und Schulungswege: »Der beste Name für Gott ist Mitgefühl« [6], lehrt Meister Eckehart.

Mitgefühl ist die Fähigkeit, wechselseitige Verbundenheit zu empfinden, in Freude, Mitfreude, ebenso in Trauer und Mit-Leid. Gerade das Letztere hat jedoch im Allgemeinen einen schlechten Ruf. Wie kommt es, dass das Mitleid (von griech. sympatheia) es so schwer hat, als Gefühl anerkannt zu werden, obwohl es doch um Mitfühlen im Schmerz und in der Trauer geht, um Anteilnahme am Leiden anderer?

Echtes Mitleid ist nicht gönnerhaft, bedeutet nicht, sich Notleidenden von oben herab zuzuwenden, sie zu Objekten von Almosen und Mildtätigkeit zu machen. Das Mitleid, so der französische Philosoph André Comte-Sponville, »ist horizontal: Es hat nur zwischen Gleichen einen Sinn, anders gesagt, es realisiert eine Gleichheit zwischen dem, der leidet und dem, der neben ihm, also auf derselben Ebene steht und das Leid mit ihm teilt. [...] Kein Mitleid ohne Achtung.«[7] Wenn dieses Mitleid als Mitfühlen in uns erwacht, dann schwindet die Illusion des Andersseins und des Getrenntseins.

Herzensbildung

Herzensbildung bedeutet, die eigenen Herzensqualitäten der Einfühlung, des Verstehens und des Mitgefühls zu entwickeln. Herzensbildung meint die Haltung, sich von allem, was einem begegnet, anrühren zu lassen, es sich zu Herzen gehen zu lassen. Es geht um eine Bildung, die mehr ist als nur Wissen, um Einfühlungsvermögen, Verständnis und Mitgefühl als soziale Fähigkeiten.

Manche Aspekte des Themas Herzensbildung werden in der Psychologie unter dem Stichwort »Emotionale Intelligenz« thematisiert, als Grundlage für Menschenkenntnis, Verstehen und Umgehen mit eigenen Emotionen und denen anderer. Herzensbildung setzt die Kultivierung einer differenzierten eigenen Innenwelt voraus. Herzensbildung als Bildungsziel basiert auf einem Menschenbild, das die Menschen als Persönlichkeit mit Herz und Verstand begreift. Es beinhaltet die Notwendigkeit sozialer Lernprozesse in Richtung der Entfaltung von Menschlichkeit. Neben den kognitiven Fähigkeiten sind emotionale und soziale Fähigkeiten gleichberechtigt zu fördern als für die Lebensbewältigung notwendige Skills.

Aus spiritueller Sicht kann man sagen: Herzensbildung ist das Wichtigste für Menschen, um ihre Menschlichkeit und das in ihnen vorhandene Liebespotential entfalten zu können – im täglichen Leben.

Die Dinge ändern sich nur, wenn sich die Menschen für einander mehr öffnen und eine grundlegende Ethik des Mitgefühls, Fürsorge für andere und das Verständnis für die globale Verbundenheit zur Basis des menschlichen Zusammenlebens werden. Dies ist auch immer wieder das Anliegen des Dalai Lama in seinen mehrfachen eindringlichen Appellen an die Welt. [8]

Anmerkungen

[1] Jung, C. G.: Das Rote Buch. Liber Novus. Herausgegeben und eingeleitet von Sonu Shamdasani. Vorwort von Ulrich Hoerni. Einleitung, Hinweise des Herausgebers zur Edition, Anmerkungsapparat und Danksagung aus dem Englischen von Christian Hermes. (Philemon Series.) 6. Aufl. Patmos, Ostfildern 2019, S. 233.
[2] Pascal, Blaise: Gedanken über Gott und den Menschen. Insel, Wiesbaden 1960, S. 9.
[3] Ebd., S. 47.
[4] Vgl. Harvey, Andrew / Baker, Carolyn: Radical Regeneration. Sacred Acivism and the Renewal of the World. Inner Traditions, Rochester, Vermont, 2022; Macy, Joanna / Brown, Molly: Für das Leben! Ohne Warum. Ermutigung zu einer spirituell-ökologischen Revolution. Aus dem Amerikanischen von Barbara Hamburger-Langer und Gunter Hamburger. 4., überarbeitete Aufl. Junfermann, Paderborn 2017; Eisenstein, Charles: The More Beautiful World Our Hearts Know Is Possible. North Antlantic Books, Berkeley 2013; Harvey, Andrew: The Hope. A Guide to Sacred Activism. Hay House, London u.a. 2009.
[5] Thich Nhat Hanh: Interbeing. Commentaries on the Tiep Hien precepts. Parallax, Berkeley 1987. Dt.: Einssein. Tiêp-Hiên, vierzehn Tore zum Buddhismus. Kommentare zu den Tiêp Hiên Regeln, Theseus, Zürich/München 1991.
[6] Zitiert nach: Fox, Matthew: Schöpfungsspiritualität. Heilung und Befreiung für die erste Welt / Matthew Fox. Aus dem Amerikanischen von Jörg Wichmann. Kreuz, Stuttgart 1993, S. 120.
[7] Ebd., S. 137.
[8] Vgl. Dalai Lama: Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion. Mit Franz Alt. Benevento, Wals bei Salzburg 2015, S. 10; ders.: Der neue Appell des Dalai Lama an die Welt. Seid Rebellen des Friedens. Mit Sophia Stril-Rever. Benevento, Salzburg/München 2018; ders.: Der Klima-Appell des Dalai Lama an die Welt. Schützt unsere Umwelt. Mit Franz Alt. Benevento, Salzburg/München 2020.

© Privat

Brigitte Dorst

Dr. Brigitte Dorst, Professorin für Psychologie, Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin in eigener Praxis in Münster, ist Lehranalytikerin u.a. am C. G. Jung-Institut Stuttgart. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Themen Analytische Psychologie und Spiritualität, Symbolpsychologie sowie Krisenintervention. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge, langjährige Fort- und Weiterbildungstätigkeit in den Bereichen Psychotherapie, Supervision und Beratung.

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