Was wir von der Winterlinde lernen können

Es so gut tut, mit offenen Augen durch die Natur zu streifen, sie ganz und gar auf uns wirken zu lassen und der Seele so freien Raum zu geben. Eine Inspiration zum Losgehen und Entdecken von Sandra Salm

Inspiration Natur Sommer

Wir planen einen gemütlichen Spaziergang am Sonntagnachmittag. Der Himmel ist blau, die Sonne lacht und es ist eine Lust, einfach so einen Schritt nach dem anderen zu tun. Über sanfte Hügel erstrecken sich die Felder, immer wieder kann der Blick weit schweifen. Am Horizont ein kleiner Wald. Wir nehmen ihn nicht als Ziel, aber als Orientierung. Kleine Straßen zerteilen die Landschaft, doch es ist wenig Verkehr und so stören sie kaum.

Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus

Auf einmal, wir haben gerade einen kleinen Hügel mit Wasserspeicher umrundet, wird der Blick frei auf einen mächtigen, ja riesigen Baum, der dort am Wegrand steht. Ich erinnere mich, »Hoher Baum« stand lapidar auf der Wanderkarte, die ich kurz vor Aufbruch noch angeschaut habe. Wir kommen näher, und immer größer wird der Baum und unser Staunen über ihn. Mehrere dicke Stämme entstammen dem einen, ungeheuer mächtigen Stamm, mit dem der Baum in der Erde wurzelt. Eine kleine Tafel weist die Winterlinde als Naturdenkmal aus. Kein Wunder, denn da lesen wir nicht nur von einer Höhe von etwa 26 Metern und einem Stammumfang von mehr als 5 Metern, sondern auch, dass der Baum schon etwa seit dem Jahr 1600 hier steht. Ach ja, ich erinnere mich: Vor ein paar Jahren wurde die Winterlinde sogar zum Baum des Jahres gekürt.

Ein Baum, der Geschichte in sich trägt

Während mein Mann die Linde umarmt, um sie zu erspüren – naja, bei diesem Stammumfang kann er nicht mehr als die Arme daran entlang ausbreiten – schaue ich staunend nach oben. Wie viel größer als ich ist sie! Und das in jeder Hinsicht… um 1600 gepflanzt, heißt es… das bedeutet, als der 30-jährige Krieg ausbrach, war sie noch ein junger Baum, hat damals wohl zum ersten Mal geblüht. Als Goethe geboren wurde, war sie schon beinahe 150 Jahre alt, und als der Geist der Französischen Revolution zu uns herüberschwappte, war dieser Baum schon fast 200 Jahre alt! Bei Gründung der Stadt Los Angeles, stand die Winterlinde schon seit 250 Jahren hier an ihrem Ort. 2 Weltkriege und die Schrecken der Nazi-Herrschaft haben sie nicht zu Fall gebracht. Und nun, mehr als 400 Jahre nach ihrer Pflanzung, ist sie noch nicht einmal »alt«, denn eine Lebenszeit von 1000 Jahren ist keine Seltenheit bei diesen prächtigen Bäumen.

Bäume sind stille Zeugen am Wegesrand

Ich atme tief ein und lehne meinen Rücken an den rauhen, zerfurchten Stamm. Fast alles, was ich jetzt sehen kann – Straßen, Brücken, Wohnhäuser, Industriegebäude, Wassertürme, Strommasten – war zur Pflanzzeit der Winterlinde noch nicht da. Wenn sie es auch nicht sehen konnte, war sie doch Zeugin, während all diese Dinge entstanden und wuchsen – und anderes verschwand: Tier- und Pflanzenarten, Ochsengespanne und Feldarbeiter, Konventionen und Handwerksberufe, Päpste und Fürsten, Staatsformen und Ländergrenzen und viele Generationen von Menschen. All das geschah, manches davon leise und allmählich, anderes mit Triumph- oder Wehgeschrei. All das geschah, während die Winterlinde ihre Wurzeln immer tiefer in die Erde trieb und ihre Äste dem Himmel entgegen reckte. Denn diese beiden, die Erde unter ihr und das Licht des Himmels über ihr, waren und blieben immer da und elementar.

Wo nimmt der Baum nur seine Lebensenergie her?

Nun fällt mir auch wieder ein, wie es Linden gelingt, so alt zu werden: wenn ihr Stamm morsch zu werden droht, bilden sie neue Innenwurzeln, die vom alten Stamm aus in Richtung Boden wachsen. Wenn wir das doch auch könnten: erkennen, was in uns nicht mehr dem Leben dient und dann neue Wege zu Kraft- und Lebensquellen einschlagen! Was ist in mir »morsch«? Wo liegen meine elementaren Lebensquellen? Wie kann ich meine Wurzeln zu ihnen ausstrecken? Wo wäre es klüger, die scheinbar so wichtigen Ereignisse um mich herum einfach geschehen zu lassen, ohne meine Kräfte darauf zu verschwenden?

Mich erfasst eine ungeheure Ehrfurcht vor der Weisheit, Beharrlichkeit und Demut dieses Baumes. Und mehr noch, ich spüre eine große und tiefe Liebe zu diesem Mitgeschöpf, der Winterlinde, die so anders ist als wir Menschen und uns doch so viel zu geben und zu lehren vermag. Vielleicht sollte ich öfter einmal bei einem Baum stehenbleiben und ein wenig innehalten.

»Wissen Sie, ich kann nicht begreifen, wie man an einem Baum vorübergehen kann, ohne glücklich zu sein darüber, dass man ihn liebt.«

Fjodor M. Dostojewski

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