Ruhestand – Achtung, Stolperfalle!

Wie der Übergang in die Rente gut gelingt. Ein Interview mit Regina von Einsiedel und Michaela Seul

Interview Ratgeber

Mit silbrigem Haar im Cabrio durch herrliche Landschaften brausen oder versonnen im Liegestuhl des Wellness Resorts übers Meer blicken, sinnstiftende Ehrenämter übernehmen, Zeit für die Familie, Freunde und sich selbst – Ruhestand könnte so schön sein. Doch nicht wenige Menschen kämpfen in diesem Lebensabschnitt mit Bedeutungsverlust, Leere und Langeweile, fallen regelrecht in ein Vakuum. In ihrem Buch »Die dritte Lebenshälfte« schildern die Autorinnen die gefährlichsten Stolperfallen, über die kaum gesprochen wird, ja die vielen gar nicht bewusst sind.

Lebe gut: Rente heißt, sich noch einmal neu erfinden zu können, sich neu zu definieren. Wer bin ich eigentlich ohne Arbeit, ohne das tägliche Hamsterrad? Kann man sich davon auch überfordert fühlen?

Regina von Einsiedel: Unbedingt! Sich diese Unsicherheit einzugestehen, ist ein erster wichtiger Schritt zu einer neuen Perspektive. Denn häufig bleiben wir eher an der Oberfläche, machen weiter wie gewohnt. Doch jetzt ist die beste Zeit, endgültig aufzuräumen mit Verhaltensmustern von gestern. In der Rushhour des Lebens war keine Zeit zu fragen: Was will ich eigentlich wirklich? Hinzu kommt, dass man mit Arbeit auch Sorgen und schlechte Erfahrungen verdrängen kann. Damit ist aber im Ruhestand Schluss. Da sind wir auf uns selbst zurückgeworfen? Was entdecken wir da? Und wen?

Erwartungen herunterschrauben

Lebe gut: Das heißt, dass man sich im Ruhestand wirklich noch einmal neu »erfinden« kann?

Regina von Einsiedel: Ja! Rente ist ein Überraschungsei. Denn wir verlieren den Status, den wir uns erarbeitet haben. Auf dem Spielplatz mit den Enkeln, im Campingbus, im Garten, im Hobbykeller, im Ehrenamt interessiert keinen, was man früher war. »Sag bitte Dr. Opa oder Dr. Oma zu mir«, wird wohl niemand einfordern. Doch es tut weh, wenn das ganze Wissen, das man im Laufe seines Lebens im Beruf gesammelt hat, plötzlich nichts mehr wert zu sein scheint.

Lebe gut: Also besser: Die eigenen Ängste und Unsicherheiten aufspüren, sich mit ihnen auseinandersetzen und dann neu durchstarten. Anstatt zu glauben, man müsste allen anderen beweisen, wie toll man die dritte Lebenshälfte wuppt, wie glücklich man ist. Nicht wenige Menschen stressen sich aber doch auch mit falschen und zu hohen Erwartungen.

Regina von Einsiedel: Das ist richtig. Schließlich weiß man, dass man nicht mehr alle Zeit der Welt hat. Das kann viel Druck aufbauen. Unsere Kultur ist durch Jugendlichkeit, Leistung und Produktivität gekennzeichnet. Davon sollten wir uns aber nicht länger anstecken lassen. Sonst besteht die Gefahr, einem Dämon hinterher zu laufen und das Glück der dritten Lebenshälfte zu verpassen.

 

Eigene Werte definieren

Lebe gut: »Rentendasein will gelernt sein« heißt eine Kapitelüberschrift in Ihrem Buch. Tatsächlich lassen die meisten die dritte Lebenshälfte allerdings eher auf sich zukommen. Sie hingegen plädieren dafür, den Ruhestand regelrecht als »Projekt anzugehen«. Was meinen Sie damit?

Regina von Einsiedel: Erstens: Neue Ziele definieren, die – ganz wichtig – den eigenen Werten entsprechen. Es ist kurios, wie wenige Menschen die eigenen Werte überhaupt kennen. Im Buch leiten wir die Leser:innen an, diese Werte zu definieren. Denn nur dann können wir die dritte Lebenshälfte glücklich gestalten. Im Job konnten wir oft zu wenig Rücksicht auf unsere persönlichen Vorstellungen nehmen. Doch jetzt sollten wir es unbedingt tun. Es ist ein Schlüssel zum Glück.

»Inneres Reinemachen«

Lebe gut: Welche Fehler kann man konkret machen?

Regina von Einsiedel: Zum Beispiel unbewusst die falschen Ehrenämter, falschen Hobbies und falschen Ziele zu wählen, – weil man sich selbst gar nicht so genau kennt, sondern nur die Person, die man während der Berufstätigkeit zu sein schien.

Es gilt beispielsweise herauszufinden, ob man jemand ist, der Altes bewahren möchte, oder lieber Neues und Abenteuer sucht. Wer weiß das schon und kann es klar benennen? Und wie sieht es mit Ihren Charaktereigenschaften und Ihrer Persönlichkeit aus? Sind Sie ein wohlwollendes Wesen, das die Anderen in den Mittelpunkt stellt, oder jemand, der schnell Lösungen findet und andere gerne führt? Anhand solcher Kriterien erkennen Sie, wie Sie den Tag als glücklicher Rentner strukturieren können, warum und für wen Sie das, was Sie tun, tun und wer Sie sind. Orientierungslosigkeit und innere Leere haben dann wenig Chancen. Wenn Ihnen bewusst ist, was Ihnen wirklich gut tut und wichtig ist und vor allem, was nicht, kann man gut die Zukunft planen und ein mentales Wohlbefinden, einen inneren Reichtum erlangen.

Um dies zu erreichen, muss man - man mag es kaum glauben, auch negative Kindheitserinnerung bearbeiten, die man während der aktiven Berufszeit irgendwo im Keller gestapelt hat. Es war keine Zeit dafür und die Arbeit hat einem erlaubt, diese unbearbeiteten »Leichen im Keller« zu ignorieren. Jetzt ist die richtige Zeit für ein großes inneres Reinemachen! Wie das geht, beschreiben wir einfach, anschaulich und leicht umsetzbar anhand einer sehr modernen und wirksamen Technik aus der Psychotherapie, der Schemaarbeit.

Wichtig: auf die mentale Gesundheit achten!

Lebe gut: Frauen verfügen über mehr »soziale Klebeproteine«, wie Sie es nennen, nicht zuletzt deshalb fällt es ihnen oft leichter, in den Ruhestand zu wechseln, als Männern. Weshalb?

Regina von Einsiedel: Derzeit gehen die sogenannten Babyboomer in Rente und in dieser Generation war die Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau noch strikter als heute. Frauen sind häufig vertraut damit, zu Hause zu sein. Sie haben sich ein privates Netzwerk aufgebaut, oft den Mann selbstredend integriert, und beziehen Zufriedenheit aus Care-Arbeit. Das war während des Berufslebens oft eine schwierige Mehrfachbelastung für Frauen. Aber sie hat in der dritten Lebenshälfte den Vorteil, sich schnell auf erfüllende Tätigkeiten und Beziehungen außerhalb des Berufs einzulassen.

Männer ohne Arbeit, deren Lebensinhalt vorwiegend um den Beruf kreiste, fühlen sich als Rentner öfter wertlos, überflüssig, wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Diese innere Unzufriedenheit, Leere und die fehlenden Ziele im Leben sind Dauerstress. Und wozu chronischer Stress führt, den die Betroffenen nicht einmal benennen könnten, wissen wir ja alle nur zu gut. Es können sich Befindlichkeitsstörungen einstellen oder auch ernsthafte psychische Symptome bis hin zur Depression, Angst oder sogar Sucht, die einem dann das Leben versauern. Was Männer oft weniger zugeben können als Frauen. Auch körperliche Symptome können auftreten. Die schieben die Rentner und Rentnerinnen und leider auch oft die Ärzte aufs Alter, und sie werden als unveränderbar kategorisiert und ausschließlich mit Medikamenten, statt mit Informationen zur mentalen Gesundheit in der Zeit nach der Arbeit, fachspezifischer Beratung, Coaching oder Therapie behandelt. Das ist so schade! Schließlich soll die dritte Lebenshälfte doch eine Art Krönung sein. Man muss nichts, was man nicht will oder kann und darf alles. Man darf sich sogar »schamlos« Hilfe für dieses Neuland holen.

Vorbereitung auf den Renteneintritt

Lebe gut: Wir dürfen annehmen, Frau von Einsiedel, dass auch Sie Ihren »inneren Kompass« beim Wechsel in den Ruhestand noch einmal neu justiert und die neue Lebensphase aktiv gestaltet haben. Ist Ihnen das ohne Weiteres gelungen – oder hat es hie und da auch ein bisschen geruckelt?

Regina von Einsiedel: Ich dachte, ich gehe ruckelfrei in die Rente. Schließlich ist es meine Profession, mich mit der mentalen Seite des Menschen zu befassen. Ich habe bei meinen Patient:innen und vor allem Coachées gesehen, dass viele Symptömchen, aber auch heftige Symptome entwickeln, wenn die Arbeit wegfällt und sie mit dem Gefühl der Nutzlosigkeit, Identitätsverlust, Langeweile, Antriebslosigkeit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit, psychischen Erkrankungen bis hin zur Suizidalität zu kämpfen hatten. Deshalb wollte ich gewappnet sein und habe erst einmal intuitiv massiv überkompensiert. Ich habe mich mit Arbeit zugeschüttet und das zwei Jahre lang. Das Kopfschütteln und die Fassungslosigkeit meines Umfeldes habe ich nicht im Geringsten wahrgenommen.

Die neue Freiheit habe ich mir erst Schritt für Schritt erarbeiten müssen. Wie der Elefant, der immer an einen Baum gekettet war und nicht gemerkt hat, dass seine Ketten weg sind, er frei ist und überall hinlaufen kann. Das war eine harte Zeit für mich. Ich habe mich geschämt Geld ohne Leistung, also Rente zu bekommen. Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass ich auch noch was wert bin, wenn ich nicht noch Kliniken leite, Gutachten schreibe, ein Schmuckgeschäft eröffne und schließlich habe ich ordentlich in die Rentenkasse eingezahlt. Das Coaching im Einzelsetting und Gruppen hingegen betreibe ich nach wie vor mit Hingabe; es ist und bleibt meine Lieblingsarbeit, sie ist Teil meiner DNA. Ich hoffe, dass mein Wissen für Menschen im Beruf, im Übergang in die Rente und im Reich der dritten Lebenshälfte hilfreich ist. Ich bin also ehrlich gesagt vorerst eine selbstbestimmte Halbrentnerin.

Eine scheinbar simple Erkenntnis aus dem Jahrzehnte langen Coaching, die sich in der Umsetzung jedoch als unerwartet komplexe Aufgabe erweist, ist, dass man spätestens zwei Jahre vor Rentenantritt damit beginnen sollte, sich aktiv mit dem Thema Leben nach der Arbeit auseinanderzusetzen. Denn ein mental erfülltes Leben muss ebenso wie ein Beruf oder eine Sprache erlernt werden, damit man eine neue Tagesstruktur in einem sinnerfüllten Leben entwickeln kann. Niemand wird über Nacht Experte für eine behagliche  Rentnerei.

Lebe gut: Und die Co-Autorin Michaela Seul?

Michaela Seul: Dieses Buch kam wie ein großes Geschenk genau zur rechten Zeit. Ich habe die Rente noch vor mir und gelernt, wie wichtig die Vorbereitung ist. Als Babyboomerin habe ich außerdem erkannt, wie sehr wir alle von den Werten geprägt sind, die in unserer Kindheit herrschten, wichtig waren – Stichwort Wirtschaftswunder und Leistungsgesellschaft. Nur wer arbeitet, am besten sehr viel, ist was wert. Doch was wird sein, wenn ich einmal nicht mehr arbeite? Dieses Buch zu schreiben hat mir gezeigt, worum es dann geht. Ich habe eine neue Perspektive gewinnen können, die ich allen Neurentnern und auch jenen, die zuerst falsch abgebogen sind, wünsche. Es ist nie zu spät! Ich wünsche mir in der Rente Erntezeit für alle!


Dieses Interview ist in unserem Kundenmagazin Herbst 2025 erschienen.


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