Das Märchen vom kleinen Mut
Wie aus einem kleinen Mut ein großer wird und warum wir diesen viel öfter in unser Leben lassen sollten ... Ein Märchen von Ulrich Peters.
Mut LebensweisheitLeben wie im Märchen, das klingt nach einem Versprechen, zu schön um wahr zu sein. Ulrich Peters ist überzeugt, dass das Leben wirklich märchenhafte Möglichkeiten eröffnen kann. Mit seinen Weisheitsmärchen, die am Wegesrand unseres alltäglichen Lebens spielen, lädt er uns ein, bis auf den Grund der Dinge zu sehen. Denn genau hier können wir einen kostbaren Schatz, einen verborgenen Sinn finden. Seine Märchen sind allesamt erfunden und dennoch wahr. Sie deuten unser Dasein.
Das Märchen vom kleinen Mut
Als der kleine Mut an diesem Morgen das Haus verließ, war ihm ein wenig merkwürdig zu Mute. Der Tag war kalt, trübe und grau, und fade, fahl und müde schienen ihm auch die Menschen, die ihm begegneten. Es war, als ob sich ein Dunst über die Dinge gelegt hätte, der die Welt verschleierte und das Leben verbarg. »Nicht gerade ermutigend«, dachte der Kleine. Aber er wäre kein kleiner Mut gewesen, wenn er sich von dieser tristen Stimmung die Sinne hätte vernebeln lassen. Es war nämlich, das sah er klar, genau das, was die Welt jetzt wohl ganz gut gebrauchen könnte. »Ein wenig Mut«, sagte er mehr zu sich selbst, »tut jetzt gut.« »Guten Tag«, grüßte er den erstbesten Menschen, der ihm entgegenkam. Der hatte die Schultern gegen den kalten Wind hochgezogen, verbarg seinen Kopf im Mantelkragen und ging eilends seines Weges. »Gestatten, ich bin ein kleiner Mut«, begann er munter. Weiter kam er jedoch nicht. Der Passant schaute missmutig auf ihn herab und bekundete mürrisch seinen Unmut darüber, dass der Kleine ihm im Weg stehe. »Entschuldigung«, entgegnete der kleine Mut und trat verstört beiseite. »Das scheint schwieriger zu werden, als ich dachte.« Aber so einfach mochte er sich nicht entmutigen lassen. Wenig später traf er auf eine alte Dame, die Einkäufe nach Hause trug. Brav begrüßte er sie und stellte sich vor. »Du hast mir gerade noch gefehlt«, antwortete da die Alte, und der Kleine schöpfte neue Hoffnung.
Diesmal, dachte er, wird es besser gehen. Aber auch jetzt irrte er sich. »Ich habe so viele Enttäuschungen erlebt«, fuhr die Frau fort. »Meinen Mann, Freundinnen und Freunde habe ich an das Alter, Krankheiten und den Tod verloren, und meine Kinder und Enkel – ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht – führen weit weg ihr eigenes Leben. Einsam und allein verbringe ich meine Tage. Nein, ich glaube nicht, dass es so leicht ist. Es wird nicht einfach gut, wenn ich einen kleinen Mut in mein Leben lasse.« Dazu schüttelte sie resignierend ihren Kopf. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab, ließ ihn stehen und schlurfte schweren Schrittes und mit hängenden Schultern mutlos weiter.
»Meine Güte«, dachte der kleine Mut inzwischen ernsthaft besorgt. »So wird das wohl nichts.« Vielleicht war er einfach zu klein, als dass man ihn ernst genommen hätte? Den Eindruck hatte er jedenfalls nach der Begegnung mit einem Kaufmann. »Nein, dich kann ich nicht gebrauchen«, hatte der ihm gesagt und mit geschwellter Brust auf die reichen Auslagen seines Geschäfts gewiesen, die in der trüben Witterung funkelten wie das Versprechen eines besseren Lebens. »Großes erreicht man nicht mit Kleinem«, prahlte er. »Da verlasse ich mich lieber auf mein eigenes Geschick. Damit habe ich immer noch die besten Erfahrungen gemacht. Schließlich habe ich aus nichts ganz und gar Großartiges geschaffen.« Wie er das sagte, schien es, als ob er sich aufrichtete und noch größer wurde, als er ohnehin schon war. Jetzt war es der kleine Mut, der grußlos seines Weges ging, um rasch Abstand von diesem hochmütigen Angeber zu gewinnen. »Alles, was du hier siehst, habe ich aus eigener Kraft und eigenem Können und ohne jede Hilfe erreicht«, rief der ihm noch hinterher. Er schien in seinem Stolz verletzt. Hatte er doch erwartet, dass der kleine Kerl ihn einfach bewunderte und sich nicht etwa abwandte. »Geh nur, ich brauche niemanden dazu, schon gar keinen kleinen Mut. Ich mache und schaffe das lieber alles alleine.«
Diese Begegnung hatte dem kleinen Mut alles andere als gutgetan. Die großsprecherischen Worte des überheblichen Kaufmanns hatten ihn kleiner und kleiner gemacht, je mehr und länger er ihnen zuhörte. Jedenfalls empfand er das so. Enttäuscht und betrübt setzte er sich in einem nahen Park auf eine Bank: ein bedrückter kleiner Mut in einer düsteren Welt, die seine Bedeutung bezweifelte. Er hatte schon eine Weile dort gesessen und Trübsal geblasen, als sich ein freundlicher älterer Herr zu ihm gesellte, der recht auffällig gekleidet war. Statt einer Jacke trug er einen altmodischen, aber vornehmen Mantel, statt einer Mütze eine Melone. »Was für ein wunderbarer Tag«, begrüßte er den kleinen Kerl. Der traute seinen Ohren nicht. »Ich weiß zwar nicht, was an diesem Tag so wunderbar sein soll, aber guten Morgen«, antwortete er die Höflichkeit gerade noch wahrend. »Na, na,« antwortete der Alte. »Wer wird denn so deprimiert sein, das Wetter ist heute doch schon düster genug.« Da brach es aus dem kleinen Mut heraus, und er erzählte dem Herrn von seinem traurigen Vormittag. »Nicht schön, nicht schön«, antwortete der nachdenklich. »Aber wir dürfen uns weder selber klein machen noch uns klein machen lassen. Dazu sind wir, einerlei wie groß wir sind, zu wichtig für die Welt.«
»Wir«, fragte der kleine Mut verwirrt zurück, »wieso wir?« »Ach, ich habe wieder vergessen, mich vorzustellen, bitte sehr um Nachsicht. Großmut, mein Name.« Und wie der Alte das sagte, ging ein breites Lächeln über seine freundlichen Gesichtszüge, das den dunklen Tag erhellte. Ja, der kleine Mut hatte von ihm reden hören, aber er war ihm noch nie begegnet. Er war daher zu der Auffassung gelangt, dass es da irgendwo etwas oder jemanden gab. Aber die Vorstellung war mindestens so verschwommen wie dieser neblige Tag. »Gibt es dich denn wirklich?«, schaute er den Alten in einer Mischung aus Zweifel und Frage an. »Scheint so«, antwortete der Alte lächelnd. »Für gewöhnlich werde ich jedoch nur an meinen Wirkungen erkannt. Aber wo immer Großmut herrscht, bin ich zugegen. Im Grunde hat dein Großmut, kleiner Kerl, mich hergeführt.« »Aber wenn sie mich doch nicht wollen«, entgegnete der kleine Kerl verzweifelt.
»Dann musst du umso mehr an dich selber glauben, das ist eine enorme Energie. Wir dürfen nicht aufgeben. Nie. Richtig schlimm wird es erst, wenn wir unsere Bestimmung verlieren: den entschiedenen Willen und die Überzeugung, wirklich etwas bewirken zu können. Dann verlieren wir uns selbst – und die Welt ihre Zuversicht und Zukunft. Denn Zukunft wird aus Mut gemacht.« »Leichter gesagt als getan«, antwortete der kleine Mut. Es war eine Mischung aus Trotz und Trauer. »Wie soll das denn geschehen?« »Wenn sie uns nicht mehr suchen, müssen sie eben von uns gefunden werden. Wir müssen Verbündete gewinnen, die uns aufnehmen und einen Platz in ihrem Leben einräumen. Das fängt ganz klein an. Was dir der Kaufmann gesagt hat, stimmt nicht. Großes erreicht man nur mit Kleinem, aus dem kleinen, beharrlichen Bemühen, das wächst und groß wird und stark, je mehr man sich darum müht und kümmert. Lass dich auf gar keinen Fall entmutigen, kleiner Kerl. Du musst in die Welt, und dein Platz ist bei denen, die dich aufzunehmen bereit sind.«
Der kleine Mut zog für einen Augenblick ungläubig seine Augenbrauen nach oben. »Menschen sind entschieden sehr merkwürdig.« Der Großmut ließ sich nicht beirren. »Es liegt in ihnen, sie tragen beide Kräfte in ihren Herzen, trauen aber häufig lieber ihren Ängsten als der Hoffnung. Es kommt darauf an, welche Kraft sie nähren.« »Aber wie«, fragte der kleine Kerl, »wie nährt man den Mut?« »Mit Vertrauen, Vertrauen ins Leben«, antwortete da der Alte. »Das macht den Mut stark. Je mehr sie uns ihr Vertrauen schenken, desto größer und bedeutender werden wir. Dass das einfach wird, kann ich dir jedoch nicht versprechen. Für Übermut besteht kein Grund, der tut ohnehin nur selten gut. Du brauchst eher Demut. Es ist eine mühsame Arbeit, Menschen zu ermutigen. Aber, glaube mir, es lohnt sich, sie aus dem Bann ihrer Ängste und Sorgen herauszuholen.«
Dazu lüftete der Alte seine Melone und erhob sich. »Guten Tag«, sagte er. »Es war mir ein Vergnügen.« Er verschwand so rasch wieder im Nebel wie er gekommen war. Die Begegnung mit dem Großmut hatte den kleinen Kerl verändert. Er erhob sich von der Bank und ging mit frischem Mut ans Werk. Wenig später traf er auf eine junge Frau, die einen besorgten Eindruck auf ihn machte. Der kleine Mut trat an ihre Seite, stellte sich vor und bot ihr seine Hilfe an. »Wenn es nur so einfach wäre«, entgegnete die junge Frau. »Mit einem kleinen Mut, denke ich, ist es nicht getan. Ich habe eine wichtige Entscheidung zu treffen und bin vollständig verunsichert. Wenn ich nur wüsste, worauf ich mich noch verlassen und vertrauen kann. Einen Moment lang glaube ich die Kraft zu haben, mir ein Herz zu fassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Dann wieder überwiegt die Sorge, genau die falsche Entscheidung zu treffen und es doch lieber sein zu lassen.«
»Du bist wankelmütig geworden?«, fragte sie der kleine Mut. »Ist das ein Wunder in einer wackligen Welt voller Widersprüche, die von Krisen und Katastrophen geschüttelt wird?«, fragte die junge Frau zurück. »Nein, natürlich nicht«, räumte der kleine Mut nachdenklich ein. »Aber wer wankt, statt zu wagen, droht das Leben zu verpassen.« Dann aber erzählte er ihr von dem, was er an diesem Tag bereits erlebt hatte. »Schon ein wenig, schon ein kleiner Mut tut gut und ist stärker als eine große Verunsicherung oder Verzweiflung. Er vermag Wankel- in Wagemut zu verwandeln.« »Meinst du wirklich?« Die junge Frau schien etwas Hoffnung zu fassen. »Ganz gewiss«, antwortete ihr der kleine Mut und schien bei diesen Worten ein wenig zu wachsen und größer zu werden. »Aber wie gelingt es, Befürchtungen aus meinem Leben zu verbannen?« »Lass mich in dein Leben, gib‘ mir einen Platz in deinem Herzen, schenke mir dein Vertrauen, dann wachse ich, und je mehr ich wachse, desto weniger Raum werden deine Bedenken beanspruchen können und dich verlassen. Genauer kann ich dir das auch nicht erklären. Du kannst es nur erfahren, wenn du es probierst.« So geschah es, dass sich an einem traurig-trüben Tag eine junge Frau traute und einen kleinen Mut zu sich nahm. Noch während sie das tat, durchbrach ein erster Sonnenstrahl den Nebel, der – je mehr er an Kraft und Intensität gewann – die Welt in sein klares und wärmendes Licht tauchte.
Dieser Text ist in unserem Kundenmagazin Herbst 2025 erschienen. Außerdem finden Sie das Märchen im Buch »Leben wie im Märchen«.
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