Annes Charakter war milder und gedämpfter; ihr fehlte die Kraft, das Feuer, die Originalität ihrer Schwester, sie war jedoch gut ausgestattet mit ihren eigenen ruhigen Tugenden. Langmütig, sich selbst verleugnend, nachdenklich und intelligent, platzierten eine körperlich bedingte Reserviertheit und Verschlossenheit sie im Schatten und sorgten dafür, dass sie dort blieb; sie bedeckten ihren Verstand und besonders ihre Gefühle mit einer Art Nonnenschleier, der nur selten angehoben wurde, schreibt Charlotte Brontë 1850 über ihre im Jahr zuvor verstorbene Schwester.
Anne war nicht nur die Schutzbedürftige
Ihre Meinung sollte bis in die jüngste Zeit prägend sein, sodass Anne häufig als die sanfte, unauffällige und am wenigsten begabte Schwester abgetan wurde und wird. Doch immerhin war ihr Werk »Die Herrin von Wildfell Hall« derart politisch und skandalös, dass ihre eigene Schwester Charlotte sich weigerte, es nach ihrem Tod wieder verlegen zu lassen.
Von Ellen Nussey wird »die liebe, sanfte Anne« mit feinen Augenbrauen, reizenden Löckchen, wunderschönen blauvioletten Augen und zarter, reiner Haut beschrieben; Charlottes Verleger George Smith erinnert sich an ihr – seiner Meinung nach – zwar nicht hübsch zu nennendes, aber angenehmes Äußeres und daran, dass sie äußerst schutzbedürftig gewirkt habe.
Doch in mancherlei Hinsicht ist Anne die stärkste der Familie, denn sie ist diejenige der Geschwister, die mit der harten Tätigkeit als Gouvernante am besten zurechtkommt und sich daher als Erwachsene am häufigsten nicht in Haworth befindet. Anne verlässt das heimatliche Pfarrhaus zum ersten Mal 1835, als sie Emilys Platz in der Schule in Roe Head einnimmt, in der Charlotte unterrichtet. Anne bleibt dort bis Dezember 1837. Von April bis Dezember 1839 ist sie als Gouvernante für eine Mrs. Ingham in Blake Hall tätig – ihre negativen Erfahrungen aus dieser Zeit fließen später in ihren Roman Agnes Grey ein, halten sie aber nicht davon ab, bereits im Mai 1840 eine neue Stelle als Gouvernante der drei ältesten Töchter bei der Familie Robinson in Thorp Green Hall in der Nähe von York anzutreten. Auch wenn es ihr nicht leicht fällt, hält sie durch bis Juni 1845. Anne scheint bei ihren Schützlingen beliebt zu sein, denn diese schenken ihr nicht nur den Hund Flossy, sondern schreiben ihr später Briefe und besuchen sie im Dezember 1848 sogar im Pfarrhaus.
Annes Träume
Ihre Charakterstärke zeigt sich auch in dem Brief, den sie am 5. April 1849 einige Wochen vor ihrem Tod an Charlottes Freundin Ellen Nussey schreibt: Ich habe keine Furcht vor dem Tod; hielte ich ihn für unvermeidlich, würde ich mich, glaube ich, still dieser Aussicht fügen … Doch ich wünschte, es würde Gott gefallen, mich zu verschonen – nicht nur um Papas und Charlottes willen, sondern auch, weil ich das Verlangen habe, etwas Gutes in der Welt zu tun, bevor ich sie verlasse. Ich habe viele Pläne in meinem Kopf, die ich verwirklichen möchte – zwar klein und begrenzt –, aber ich möchte nicht, dass aus ihnen allen nichts wird und ich selbst in meinem Leben so wenig bewirkt habe.
Aus »Charlotte, Emily und Anne Brontë – Wissenswertes & Erstaunliches«, Kapitel »Eine Familie mit besonderen Talenten«
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