Michael Blume über Antisemitismus und antisemitische Verschwörungsmythen

Ein Interview mit Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, der in seinem neuen Buch darlegt, wie die Wechselwirkung aus Medien, Mythen und Demografie den Antisemitismus prägte – und durch das Internet mehr denn je präsent ist

Interview Gesellschaft Verantwortung Toleranz

Was Antisemitismus bedeutet

Lebe gut: Herr Blume, was ist Antisemitismus?

Michael Blume: Antisemitismus besteht aus dem Glauben, dass eine böse Weltverschwörung unter Beteiligung von Juden die Welt regiert. Zugespitzt kann man sagen, dass gewachsene Religionen und Weltanschauungen die Herrschaft guter Mächte wie »Gott« und »Vernunft« lehren. Antisemiten glauben dagegen an die Übermacht des Bösen. Ihr Hass beginnt mit Juden und bedroht letztlich alle Andersdenkenden als angebliche Mitverschwörer.

Lebe gut: Warum trifft es durch die Jahrhunderte und in vielen Kulturen immer wieder die Juden?

Michael Blume: Der biblische Noahsohn Sem begründet nach jüdischer Überlieferung keine »Rasse« oder Sprache, sondern das erste Lehrhaus auf Basis einer leicht zu lernenden Alphabetschrift. Das Judentum begründete also als erste Religion Recht und Schulsystem auf Basis von leicht zu lernenden Texten! Schon in der Antike werden Erfolge, Zusammenhalt, Kinderreichtum und Bildung der Hebräer als Verschwörung erklärt.

Antisemitismus und deren Formen in der Gegenwart

Lebe gut: Dann ist Antisemitismus also mehr als Hass auf Juden?

Michael Blume: Ja, denn der Verschwörungsglaube greift immer auch Nichtjuden an, vor allem Medien, demokratische Politikerinnen, Wissenschaftler, Ärztinnen, Richter. Die Nazis haben daher auch die überwiegend christlichen Sinti und Roma ermordet. Der ebenfalls antisemitische »Islamische Staat« tötete die Yeziden. Jonathan Sacks hat es richtig zusammengefasst: »Der Hass, der mit den Juden beginnt, endet nie mit den Juden.« Viele Antisemiten sind noch nie Menschen jüdischen Glaubens begegnet. Ihr Verschwörungsglaube richtet sich gegen die semitischen Wurzeln unserer Zivilisation und letztlich gegen uns alle.


Lebe gut: Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Woran sieht man das?

Michael Blume: Zuerst kam es nur zu einem Anstieg antisemitischer Beschimpfungen und Verschwörungsmythen im Internet. Deutsche »Reichsbürger«, arabische und osteuropäische Antisemiten wurden lange kaum ernstgenommen. Doch nun schwappt die Gewalt aus dem Netz auf die Straße. Es werden gar nicht unbedingt mehr Antisemiten – aber die, die es gibt, radikalisieren sich in hasserfüllten Netzblasen. Der Anstieg ist leider noch nicht vorbei.

Über die Notwendigkeit eines Antisemitismusbeauftragten im politischen Alltag

Lebe gut: Wie sind Sie zum Antisemitismusbeauftragten geworden?

Michael Blume: Die jüdischen Gemeinden unseres Landes hatten mich bei Ministerpräsident Kretschmann und den Fraktionen des Landtags vorgeschlagen. Gott sei Dank hatte ich schon länger einschlägig geforscht und auch mit dem Buch angefangen. So war ich direkt im Thema.


Lebe gut: Was macht ein Antisemitismusbeauftragter?

Michael Blume: Ich versuche nicht nur die jüdischen Gemeinden, sondern unsere Gesellschaft mit bald 12 Millionen Menschen vor dem Hass der Extremisten zu schützen. Konkret helfe ich Angegriffenen. Ich bringe verschiedene Stellen der Regierung zusammen, spreche im ganzen Land und arbeite mit meinem Team am ersten Antisemitismusbericht für unseren Landtag mit Handlungsempfehlungen. So benötigen unter anderem über 100.000 Lehrerinnen und Lehrer dringend modernes Lehrmaterial und Fortbildungen. Auch aus Gedenkstätten, von Polizei, Justiz und Medien gibt es eine Flut von Anfragen.

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Lebe gut: Was hilft denn gegen Antisemitismus?

Michael Blume: Nur Wissen und Herzensbildung. Wenn Menschen verstanden haben, wie die Psychologie von Verschwörungsmythen funktioniert, werden sie immun. Es findet nur selten heraus, wer bereits viele Jahre im antisemitischen Verschwörungsglauben unterwegs war. Die Betroffenen leben wirklich in Angst und rechtfertigen Gewalt als Notwehr. Und jedes Gegenargument gilt als Teil der Verschwörung. Auch deswegen habe ich das Buch für Interessierte, für Lehrende, Eltern und Entscheidungsträger verfasst. Es kommt darauf an, ein Abgleiten zu verhindern und möglichst früh einzugreifen.

Lebe gut: Kann ein Antisemitismusbeauftragter den Erfolg seiner Arbeit messen?

Michael Blume: Antisemiten haben nach der Einführung der elektronischen Medien wie Radio und Film ganze Staaten übernommen und unfassbare Verbrechen an Juden und Nichtjuden begangen. Das darf ihnen mit den digitalen Medien nicht wieder gelingen! Wir müssen möglichst alle Kinder durch Bildung vor Verschwörungsmythen schützen. Wir sollten Erwachsene aufklären und eingefleischte Antisemiten früher und entschiedener bekämpfen. Dann wird es mein Amt eines Tages nicht mehr brauchen.


Michael Blume

Michael Blume

Dr. Michael Blume, Religions- und Politikwissenschaftler, ist Beauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitete bis Juni…

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