Wieder mehr Vertrauen wagen

Vertrauen ist unabdingbar. Und es braucht Mut, so die Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin Verena Kast in ihrem Buch. Über eine Grundhaltung, ohne die unser soziales Leben nicht denkbar wäre

Mut Vertrauen Ratgeber Lebenshilfe

Dem Ausspruch »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, der – ohne Belege – Lenin zugesprochen wird, würde Verena Kast sicher nicht zustimmen. Sie weist vielmehr darauf hin, wie wichtig Vertrauen für das menschliche Miteinander ist, und schlägt in ihrem neuen Buch einen weiten Bogen: von psychologischen Konzepten – etwa der Bindungstheorie und dem Jung’schen Schattenkonzept – über soziologische Ansätze bis hin zu den neuesten Forschungen in der Emotionspsychologie.
Sie fragt unter anderem: Wie entwickelt sich Vertrauen? Was zeichnet Vertrauensbeziehungen aus? Wie kann verlorenes Vertrauen wiederhergestellt werden? Was bedeuten Vertrauen und Misstrauen für unser soziales Miteinander? Die renommierte Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin zeigt: Vertrauen und Misstrauen sind Grundhaltungen, ohne die unser Leben gar nicht denkbar ist.

Dr. Verena Kast ist Professorin für Psychologie und Psychotherapeutin in eigener Praxis und Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung- Institut Zürich. Sie hat zahlreiche, viel beachtete Werke zur Psychologie der Emotionen, zu Grundlagen der Psychotherapie und der Interpretation von Märchen und Träumen verfasst.

Ihr Buch »Vertrauen braucht Mut« ist besonders in Zeiten wie diesen – seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und der dadurch ausgelösten weltweiten Erschütterung – aktueller denn je. Es wird darin deutlich, was wir verlieren, wenn wir nicht mehr vertrauen können.

Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Buch »Vertrauen braucht Mut« von Verena Kast, warum Vertrauen so notwendig ist in einer komplexen Welt und warum Misstrauen zerstörerisch auf unsere Beziehungen wirkt:


Vertrauen und Misstrauen als Grundhaltungen des Lebens

»Manchen Menschen vertrauen wir einfach, anderen misstrauen wir – oder wir versuchen, das anfängliche Misstrauen zu überwinden. Wir vertrauen auch der Technik, unseren Regierungen, unseren Medikamenten – oder eben: wir misstrauen. Manchmal sind wir zu vertrauensvoll, und dann werden wir mit einer unschönen Realität konfrontiert, manchmal sind wir zu misstrauisch und spüren, wie wir auf uns selbst zurückgeworfen werden, aus unseren normalen vertrauensvollen Verbindungen, die wir sonst mit Menschen haben, herausfallen, uns unsicher fühlen, bedroht – nicht mehr aufgehoben.

Vertrauen und Misstrauen sind Grundhaltungen von uns Menschen – in den vielfältigen Beziehungen und Bezügen, in denen wir leben. Sie regeln unsere Beziehungen untereinander, und letztlich haben sie einen großen Einfluss darauf, ob wir glauben, anstehende Probleme, im Privaten, aber auch im öffentlichen Raum, lösen zu können. Sie bestimmen darüber, wie wir die Zukunft antizipieren.

Eine Frage von existenzieller Bedeutung

Das Thema Vertrauen und Misstrauen ist ein Thema, das unsere Existenz grundlegend beeinflusst. Das ist auch daran ersichtlich, dass es in vielen Fachrichtungen untersucht wird. In der Psychologie natürlich im Zusammenhang mit Angst, mit Hoffnung, mit Zuversicht. In der Soziologie verknüpft zum Beispiel mit der Frage, ob mit der Betonung der Autonomie Vertrauen beschädigt wird. Vertrauen und Misstrauen wird behandelt in der Philosophie, in der Theologie, in der Literatur. Es ist eine existenzielle Fragestellung: Sie betrifft unser Miteinander und unseren Umgang mit der Angst und unserer Verletzlichkeit. Wir sind auch mutig, aber wenn es um Vertrauen und Misstrauen geht, geht es um Verletzlichkeit und um die Hoffnung, mit dieser Verletzlichkeit umgehen zu können, sich das Vertrauen bewahren zu können, geht es darum, dass andere unsere Verletzlichkeit nicht missbrauchen, was sie könnten, wenn wir vertrauen.

Vertrauen und Misstrauen vereinfachen das Leben

Vertrauen und Misstrauen reduzieren Komplexität. Auch wenn wir versuchen, einen Überblick über das eigene Leben zu haben – schwieriger noch über unser Leben in der Zivilgesellschaft, in der Politik. Wir werden immer an unsere Grenzen unseres Wissens und unserer Möglichkeiten kommen – und wir werden vertrauen müssen. Steigen wir in einen Zug ein, so vertrauen wir, dass der Lokführer – oder die Elektronik – den Zug sicher zum nächsten Bahnhof bringen wird.

Müssten wir alle dabei bestehenden Komponenten nachprüfen, würden wir den Zug nicht mehr benutzen können. Wir vertrauen und wir haben auch Erfahrungswerte für dieses unser Vertrauen.

Implizites Vertrauen kann man nicht wirklich prüfen, es ist einfach vorhanden. Und in dieses Netz des Vertrauens ist man selbst eingebettet – auch als ein vertrauenswürdiges Individuum –, und das reduziert Angst. Unsere Routinen, die von implizitem Vertrauen getragen sind, reduzieren viele unserer unbewussten Ängste. Aber auch das Misstrauen reduziert Komplexität: Gehe ich davon aus, dass die meisten Menschen mir schaden wollen, dann muss ich nicht mehr lange über die Beweggründe von Handlungen von Menschen, mit denen ich es zu tun habe, nachdenken, denn ich bin davon überzeugt, dass sie mir schaden werden. Es geht dann nur noch um das Wie dieses Schädigens und um den eigenen Schutz.

Wenn aus Vertrauen Misstrauen wird

Vertrauen und Misstrauen gehen oft ineinander über. Beide minimieren Komplexität, und Vertrauen ist nicht immer besser als Misstrauen. Misstrauen kann in einer Situation angebracht und angemessen sein, und müsste angesprochen werden. Wir zweifeln dann daran, dass wir vertrauen können. Der Zweifel ruft zur Reflexion auf: Wir sind dann wenigstens nicht einfältig, und wir haben gespürt, dass etwas nicht stimmt, und diese Gefühle sind ernst zu nehmen.

Ein Beispiel: Sie arbeiten sehr gut zusammen in einem Team, sie vertrauen einander fast blind und lassen einander große Freiheiten. Aber plötzlich sind Sie etwas irritiert über einige Aussagen, die Sie, etwas misstrauisch geworden, so interpretieren, dass der Teamgeist in eine Richtung geht, die Ihnen nicht gefällt. Da nehmen sich einige zu viele Freiheiten heraus. Solange dieses aufkeimende Misstrauen angesprochen wird, kann dies zu einer guten Klärung einer Situation führen und kann sehr wichtig sein: Man hatte sich einfach angewöhnt, einander zu vertrauen, und das Misstrauen schärft wieder den Blick für die Beziehung, hilft allen, sich wieder neu zu orientieren. Schwelt das Misstrauen aber untergründig, stört das die Arbeitsatmosphäre. Misstrauisch beginnt man sich zu beäugen, vermutet Destruktives hinter allen möglichen Aktionen, ist nicht mehr bereit, zunächst wohlwollend die Aktionen zu prüfen.

Konstruktives Misstrauen

Vertrauen kann leicht in Misstrauen umschlagen; es gibt eine Schwelle, an der dies geschieht: Gerade noch haben wir vertraut, dann sind wir irritiert von einem Verhalten, das nicht zum Vertrauen passen will, und es ist – auch wenn die Situation angesprochen wird – schwierig, vom Misstrauen wieder zum Vertrauen zurückzufinden.

Im besten Fall lernt man etwas daraus: Hat man zu naiv vertraut, sieht man alles zu positiv, rechnet man nicht mit der Bosheit der Mitmenschen? Man muss nicht grundsätzlich misstrauisch werden. Dennoch: Vertrauen kann missbraucht werden. Sind wir aber misstrauisch, werden wir nie herausfinden, ob wir eigentlich hätten vertrauen können, ob das Leben hätte besser sein können.

Es ist genauso falsch, immer zu vertrauen, wie es falsch ist, immer zu misstrauen. Gerade weil so vieles unsicher ist in unserer Welt, nicht durchschaubar, auch schon ohne Pandemie, ist es sinnvoll, scheinbar Gegebenes auch konstruktiv zu hinterfragen. Es gibt durchaus ein gesundes Misstrauen, das man dann vielleicht eher Skepsis nennen sollte.

Zerstörerisches Misstrauen

Viel öfter begegnen wir jedoch dem destruktiven Misstrauen, einem Misstrauen, das primär zerstören will. Das destruktive Misstrauen führt zu einer Spaltung zwischen den vermeintlich Wissenden, den Misstrauischen, und »den anderen«, den vermeintlich Unwissenden. Verbundenheit besteht nur unter denen, die die gleiche Geschichte des Misstrauens miteinander teilen. Zwischen diesen beiden Gruppierungen besteht keine Verbundenheit und eben kein Vertrauen, sondern Misstrauen. Verbundenheit beruht auf Vertrauen, und Vertrauen bewirkt Verbundenheit.

Wenn Vertrauen bröckelt, bemühen wir anstelle des Vertrauens Autoritäten, machen Gesetze, Verträge. Kein Handschlag mehr. Viel Geschriebenes. Das ist kostspielig; es kostet viel weniger, wenn man sich einfach vertraut und riskiert, dass das Vertrauen nicht immer angebracht ist. Und die zunehmende Kontrolle wird kompliziert – denken wir daran, wie wir immer mehr Zeit in administrative Belange, in Beschreibungen von Prozessen und anschließend in Evaluationen investieren müssen, um zu belegen, dass wir etwas Vernünftiges gemacht haben. Und weil wir nicht mehr vertrauen, fordern wir Transparenz.

Aufrichtigkeit oder Transparenz?

An sich erwarten wir natürlich immer noch Aufrichtigkeit, aber heute auch Transparenz. Das ist ein kritischer Begriff: Transparenz bedeutet, dass wir alles »durchsichtig« machen müssen, nachvollziehbar, und das ist ja nicht schlecht. Aber: Diese Forderung bewirkt, dass wir im Namen der Transparenz immer mehr Dokumentationspflichten haben, was dazu führen soll, dass wir einander vertrauen, weil wir sehen, was andere gemacht haben. Aber kann man es nicht auch umgekehrt sehen? Weil wir einander nicht mehr vertrauen, müssen wir alles transparent machen. Und manchmal wäre zu vertrauen wirklich einfacher, gäbe es weniger Bürokratie, man hätte wieder mehr Zeit für Wesentliches.«

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